Wirklich frohe Botschaft?

Liebe Geschwister in Christus (Pedigt vom 13.02.2022)

Unser Wissen um die Zeit und Entwicklungsprozesse wächst und erweitert sich. Wir sind auf dem Weg und vieles ist offen. Letzthin war ich bei einem Patenkind zu Besuch. Er hat im Chemie-Unterricht nicht mehr nur ein Buch, wie ich damals, sondern auch Computer-Programme fürs Lernen. Und diese können Theorien veranschaulichen. Zum Beispiel: Wasser ist eine chemische Verbindung aus Sauerstoff und Wasserstoff, H2O. Zu meiner Schulzeit hiess es, das Wassermolekül besteht aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom. Ich stellte mir vor, man wirft die Atome zueinander und sofort hat man Wasser. Bei der Animation auf dem Computer lernte ich, dass chemische Prozesse Zeit brauchen. Die verschiedenen Atome müssen sich finden und dann auch binden. Auf dem Bildschirm sahen wir die Atome in einem Aquarium herumschwirren und ab und zu, zack, da gab es eine Verbindung. Ich staunte und bin dankbar für dieses neue Verständnis von chemischen Prozessen. Auch da braucht es Zeit.

Oft ist es uns klar, dass Reifung Zeit braucht. Keine Frage, beim Wein muss man einige Jahre warten, bis er seinen Jahrgang hat. Bei einigen Prozessen kann man kaum warten, bis es soweit ist. Vor allem Kinder müssen sich bei einigem gedulden. Wenn ich die Schule fertig habe, dann … Wenn ich achtzehn bin, dann … Wenn ich einen Meter fünfzig gross bin, dann … darf ich in Rust auf den Eurospider. In meinem Alter höre ich wohl am ehesten, wenn ich mal pensioniert bin, dann bin ich frei und mache was ich will. Welche «wenn …, dann …» hören Sie am meisten in ihrem Alltag?

Bei Jesus ist die Satzstruktur: «Selig …, denn …»; aber auch «Weh euch …, denn …».

Bei der ersten Seligpreisung im Lukasevangelium gibt es keine Wartezeit: Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Nun, diese Aussage ist eher ein Frust für mich, wohl für uns alle. Leben wir doch in einem reichen Land und wenige von uns können von sich behaupten arm zu sein. Selbst als Kapuziner mit dem Gelübde «ohne Eigentum» zu leben, hüte ich mich, von Armut zu sprechen. Und das Lukas-Evangelium vermeidet wohlweislich, Armut allzu schnell zu spiritualisieren. Ich denke, dieser Stachel in unserem Fleisch – wie es Paulus wohl formulieren würde – ist sehr wichtig und verhindert, dass wir uns zu schnell aus der Verantwortung für die Verteilung des Reichtums in der Welt nehmen und uns selbstgefällig zurücklehnen. Auch bei uns sind die sozialen Unterschiede gross.

Weiter hören wir aus dem Tagesevangelium:

Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden.
Weh euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern.

Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.
Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen.

Ehrlich, solche Sätze mag ich nicht. Nein, bitte nicht alles auf den Kopf stellen. Ziel soll es doch sein, dass niemand hungert, dass niemand weint, dass alle glücklich sind und in Fülle leben dürfen. Was sage ich als satter, übergewichtiger Mensch zu solchen Sätzen?

Eben habe ich in der Zeitung (www.journal21.ch) gelesen: «Zehn Prozent der Weltbevölkerung haben nicht genügend Nahrungsmittel. Das sind 811 Millionen Menschen. Allein im letzten Jahr stieg die Zahl um 161 Millionen. Dies berichtet die «UN Global Humanitarian Overview».» Mag sein, dass ich mit den vielfältigen Ursachen oft wenig zu tun habe. In der Zeitung ist zu lesen: «Eine wichtige Rolle spielen bewaffnete Konflikte, extreme Wetterbedingungen, Pflanzenkrankheiten, die Corona-Pandemie, logistische Schwierigkeiten, bedürftige Menschen zu erreichen – und Heuschreckenplagen.»

Und trotzdem dröhnt in meinen Ohren: Weh euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern. Nun, eine echte Antwort auf diesen Weh-Ruf habe ich keine. Höchstens viel Gottvertrauen in Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Auch wir sind seine Geschöpfe und versuchen Verantwortung wahrzunehmen – auch wenn wir manchmal auf der Stecke bleiben.

Ach ja, und wie gehen wir mit dem letzten Gegensatzpaar um:

Selig seid ihr, wenn die Menschen euch hassen und wenn sie euch ausstossen und schmähen und euren Namen in Verruf bringen um des Menschensohnes willen.
Weh, wenn euch alle Menschen loben. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht.

Für mich haben diese Sätze gegenwärtig eine besondere Brisanz. Da denke ich beispielsweise an die Missbrauchsfälle in der römisch-katholischen Kirche. Auf den klerikalen und hierarchischen Machtmissbrauch bin ich gar nicht stolz. Da braucht es einige und schnelle Veränderungen im System, aber auch im konkreten Leben.

Was können diese «Selig-» und diese «Weh-Sätze» von Jesus mir heute sagen?

Schwierig. Vielleicht; spring über deine eigenen Schatten, deine Bequemlichkeit, mache dich stark für das Leben und sei kritisch. Ändere deine Lebensgewohnheiten. Werde politisch. Orientiere dich nicht an Meinungen oder an Mehrheiten, sondern steh ein für den Gott des Lebens, der Gerechtigkeit will und Frieden schafft; den Gott der Liebe und der Barmherzigkeit. Überspringe konfessionelle, religiöse, wirtschaftliche, politische Widerstände und vertraue mit Jesus von Nazareth auf das Leben, auch wenn es zu verlieren scheint. Lebe, gewaltfrei und lebensbejahend ….

Paulus, wie wir ihn in der Lesung gehört haben, macht mir Mut. Er schreibt: Nun aber i s t Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen.
Ja, ich glaube, dass Gott die Schöpfung in seinen Händen hat und das Reich Gottes eines Tages für alle Menschen vollendet wird, auch für uns. Ich glaube und vertraue auf Gott, auch wenn ich noch nicht alle Zusammenhänge und Verbindungen des Lebens und unseres Glaubens verstehe. Vielleicht ist das ein Prozess, wie ich ihn mit meinem Patenkind zusammen auf dem Computer bestaunen konnte, ihn aber jetzt noch nicht verstehen kann. Und da sage ich mir: Trau Gott und seinem Ja zum Leben. Amen.

Bibeltexte 1 Kor 15,12.16-20; Lk 6.17.20-26

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert