ITE 2022.2 Warten ist stets an einen konkreten Zeitabschnitt und bestimmten Ort gebunden. Einerseits sollen solche Warteräume in der modernen Welt verschwinden oder überdeckt werden, andererseits wird gerade das Warten wieder als neue Kraftquelle entdeckt. Dann kann sich das Warten vom Erwarten entkoppeln.
Der schmächtige Bruder Josef Hangartner selig war bei den Menschen sehr beliebt – und dies trotz des Umstandes, dass er seine Meinung gut und gewandt vertreten konnte. In jüngeren Jahren war er in Zürich ein geduldiger und überzeugter Hausmissionar. Dabei war der nette Bruder nicht nur auf der Kanzel bekannt für seine eindeutigen Ansichten, sondern später auch mit seinen Leserbriefen in den Redaktionen. Und bei dieser Geschichte hier geht es um den Warteraum im neugebauten, besser, im Burgenstil rückgebauten Bahnhof Rapperswil.
Vor dem Rückbau des Bahnhofs gab es im Hauptgebäude einen gemütlichen und bequem eingerichteten Wartesaal. Wem das lebendige Kloster am See zu unruhig wurde, der konnte sich in diesen Warteraum der Bahn zurückziehen und herunterfahren – gedacht und genutzt wurde dieser Raum von Menschen, die auf einen Anschluss warten mussten. Und da dies (früher) des Öfteren vorkam, gab sich die SBB Mühe, diesen Ort auch mit Lebensqualität auszustatten. Alte Bahnhöfe kennen manchmal heute noch berühmte und künstlerisch gestaltete Wartesäle. Vor allem die Decken mittelgrosser Bahnhöfe wurden von schönen Bildern bekannter Künstler geziert.
Vergangene Kultur des Wartens
Nach dem Umbau des Bahnhofs Rapperswil wurde in der zentralen Halle ein Kaffi eingerichtet. Als Bruder Josef eines Tages hinsass, um einen Gast zu erwarten, kam die Kellnerin und fragte freundlich, was er sich wünsche: «Ich möchte hier im Wartesaal auf einen Freund warten und habe im Kloster gut gegessen», war Josefs klärende Antwort. Er hatte also keinen Wunsch offen. Die freundliche Bedienung zeigte dem alten Mann die Schiebetüre, die im neuen Gebäude automatisch auf und zu geht. So stand Bruder Josef bald wieder draussen vor der Türe und fror im Winter an der Kälte, wartete auf seinen Freund – und genau da entstand in seinem Kopf ein Leserbrief; der dann zu Hause nur noch mit der Speicherschreibmaschine in die Tasten gehämmert werden musste.
Josef wurde nett darauf hingewiesen, dass es neu auf den Perrons, ganz nahe bei den Zügen, Wartekabinen gäbe, die im Winter sogar geheizt seien.
Doch mit der Kultur des Wartens und Geniessens konnte der Kapuziner diese funktionalen Kabinen nicht mehr in Verbindung bringen. Wenn er im schönen Raum des ehemaligen Wartesaales sein wollte, dann war er gezwungen zu konsumieren. Oder beim Warten eben auf engen Gitterbänken, hinter Plexiglas-Scheiben ausgestellt, auf dem Perron zu verweilen. Und wenn es kalt ist, dann stehen die Wartenden dicht gedrängt und hoffen nur noch, dass der Zug bald kommt. Hier wird das Warten funktional reduziert und mühsam.
Ein Ende des Wartens
2016 war im Blick zu lesen «SBB schliesst Luxus-Lounges in Zürich und Genf. Weil man an den Bahnhöfen in Zürich und Genf kaum mehr auf Anschlusszüge warten muss, schliesst die SBB ihre 1.-Klass-Lounges per Ende 2016». Begründet hat die SBB diese Entwicklung mit den stets kürzer werdenden Anschlusszeiten und den besser werdenden Verpflegungsmöglichkeiten in und um die Bahnhöfe. Deshalb seien diese Lounges von den Reisenden nicht mehr gefragt. Und folgerichtig werden moderne Bahnhöfe immer mehr zu Verpflegungs- und Einkaufszentren, Konsumtempeln und sind nicht mehr Orte des Verweilens und Wartens. Und oft staunt man, dass es am Bahnhof überhaupt noch Züge gibt. Warten wird dann mit Konsum und Shoppingzeit gleichgesetzt und manchmal künstlich verlängert.
Ist Warten etwas, was abgeschafft gehört? Ist Warten etwas Neues, das erst an den Bahnhöfen erfunden worden ist? Warten besteht aus einer Zeitspanne an einem bestimmten Ort in Erwartung von Etwas, beispielsweise einem Zug. Im Zusammenhang mit dem Reisen geht es einerseits darum, Wartezeiten zu reduzieren und am liebsten zu eliminieren. Andererseits lässt sich in den Bahnhöfen gut beobachten, wie diese für Menschen und Menschengruppen zu beliebten Treffpunkten geworden sind. Orte, wo sich einander bekannte oder unbekannte Menschen treffen und unterhalten können.
Die Menschen warten, seitdem es Menschen gibt.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Menschen vermutlich warten, seitdem es Menschen gibt. Der Jäger wartete auf das zu erlegende Tier und kannte den richtigen Zeitpunkt und Ort dazu. Sammler und Bauern mussten warten, bis die Pflanzen gewachsen und reif zum Essen sind. Dazu mussten auch sie schon zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein. In der Wüste gibt es keine Äpfel zu ernten. Hirten wandern heute noch mit ihren Tieren zur richtigen Jahreszeit an den Weideort und warten, bis die Tiere das Gras gefressen haben. In Schweizer Bergtälern gibt es eine klar definierte Bergwirtschaft mit vorgegebenen Wartezeiten. Vor allem die Walser waren in der Schweiz geschickte Berghirten, die genau wussten, wann das Vieh wo sein muss. Und eben, wie lange man warten muss, um höher oder tiefer zu ziehen.
Das Gebet als Warten und Aushalten
Stimmungsvoll flackern die Kerzen in der Antoniusgrotte in Rapperswil. Ein kleiner dunkler Raum mit einem Ambiente, das zum Verweilen einlädt. Ein Vater tritt mit seinen beiden Kindern ein. Diese stolpern mit glänzenden Augen zum Kerzenständer. «Eine Kerze für unsere Omi», sagen sie ganz ernst. Omi ist im Spital und die Familie hofft, dass sie gesund wird. Beim Anzünden denkt der Mann an die schwierige Situation am Arbeitsplatz. Hoffentlich muss Elmar die Firma nicht verlassen. Schweigend schauen sie in die flackernden Kerzen. Etwas abseits im Dunklen sitzt eine Frau innerlich unruhig in schwere Gedanken versunken. Ihr Mann hatte einen Herzinfarkt und sie hofft, dass das gemeinsame Leben noch lange glücklich weitergeht. «Karl ist ein guter Vater und Ehemann», geht ihr durch den Sinn. Im Moment handeln die Ärzte, und sie ist hier in der Stille am Warten. Erwartet einen gemeinsamen Lebensabend, der hoffentlich wunderbar wird.
Warten selbst hat eine Qualität, die gepflegt und genossen werden darf.
Das Leben kennt spezielle Warteräume und auch diese sind in Veränderung. Vor allem im Mittelalter war das irdische Leben der Ort und die Zeit des Wartens auf das ewige Leben an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit – eben die Ewigkeit. Theologinnen und Theologen betonen sehr, dass Ewigkeit nichts mit irdischer Zeit zu tun hat. Auch heute noch gibt es Menschen mit solchen Jenseitsvorstellungen.
Andere Stimmen lassen das «Nachher» offen und betonen das gute Leben im Jetzt. So oder so gehört Warten zum Leben. Vielleicht kann mit der Beschleunigung und der Planung des Lebens «Wartezeit» verkürzt werden. Oder vielleicht ist von Bruder Josef zu lernen, dass Warten selbst auch eine Qualität hat, die gepflegt und genossen werden darf.
Eine Spiritualität des Wartens
Pflücke die alltäglichen Wartezeiten als Geschenk und fülle sie mit deiner, vielleicht auch mit Gottes Gegenwart. Schliesse auf dem Perron die Augen und atme tief durch. Komme an der Bushaltestelle zuerst einmal bei dir an und verweile. Sehne dich nach diesen Dichtemomenten des Glücks und des Alltags. So kann man es von spirituellen Lehrern und Lehrerinnen hören. Nimm dir die Zeit an jedem Ort, in jedem Moment, der sich bietet, zu warten, vielleicht auch zu erwarten, dass Gott kommt, dass das Leben Tiefe und Weite erhält, dass du da bist und lebst. Doch schon das Warten selber hat seinen Sinn und seine Wirkung. Denn das Meditieren soll ja, so zeigen auch wissenschaftliche Untersuchungen, gesund sein.