Lust beflügelt spirituelle Entdecker und vor allem Entdeckerinnen. Mag sein, dass viele Menschen noch Leiden am Untergang früherer Kirchenbilder und Frömmigkeitsformen, doch gibt es immer mehr Menschen, die mit Freude neue religiöse Ausdrucksweisen entdecken im bald unübersichtlichen Dschungel der Religionen und Spiritualitäten.
Gerne reden wir in statischen Bildern von Gott und wir meinen, Religion habe mit der Vergangenheit zu tun. Wenn wir Gott, wie er sich im Alten Testament gezeigt hat ernst nehmen, ja wenn wir Jesus von Nazareth und seine Verkündigung der Reich-Gottes-Botschaft hören, dann wird Religion zu einer geschichtlichen Grösse und zu einem Ziel in der Zukunft, nicht im Ursprung oder in der Vergangenheit.
Als Kind wurde mir die Schöpfung der Welt als eine abgeschlossenes Ereignis der Vergangenheit vermittelt; und heute noch gibt es Gläubige, die logischerweise versuchen müssen, die sieben Schöpfungstage mit der modernen Naturwissenschaft in Zusammenhang zu bringen. Im Theologiestudium realisierte ich plötzlich, dass die Schöpfungsgeschichte auch ganz anders verstanden werden kann; sie sagt uns, dass die ganze Schöpfung am Ende ganz gut und ganz schön sein werde. Damit würde sie zu einer Hoffnungsgeschichte für die Zukunft. Nicht Umweltverschmutzung und –zerstörung werden sich im Verlaufe der Geschichte durchsetzen, sondern gut und schön, ja sehr gut und sehr schön wird sie werden, die Schöpfung Gottes. Diese ist aber noch auf dem Weg zum Ruhetag.
Wiederkunft, nicht Herkunft
Gerne würde man obigen Glaubensansatz als naiv und blauäugig abtun. Kann solche Verheissung sein, wenn die Gegenwartserfahrung so ganz anders ist. Die Umweltprobleme beschäftigen uns und statt Frieden scheint die Globalisierung vor allem Kriege gebracht zu haben. Diese Zukunft macht Angst und scheint düster zu werden. Gerne flieht man gedanklich in die guten alten Zeiten, wo scheinbar alles noch in Butter war.
Jesus von Nazareth – für die meisten Christen ganz Mensch und ganz Gott – ist die christliche Orientierungsgrösse. Heilend und vergebend ist er vor knapp zweitausend Jahren in Israel unterwegs gewesen und hat von seiner Gottesnähe erzählt, bis er am Kreuz hingerichtet wurde. Schluss. Aus. Amen der Geschichte?
„Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir, deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit“, beten viele Christen in ihren Gottesdiensten. Es ist dies das Glaubensbekenntnis, das nach dem Tod eines Jesus von Nazareth die Christen beflügelt hat. Sie bleiben damit nicht in der Gegenwart, verziehen sich nicht in die Vergangenheit, sondern machen sich auf den Weg in die Zukunft, die – wie immer sie auch vorgestellt wird – hoffnungsvoll ist. Unsere Rettung kommt aus der Zukunft wieder. Und wir gehen ihr vorwärtsbewegend entgegen.
Auch heute wieder unterwegs
Mag sein, dass es früher für die Religionen, speziell für die Kirchen, ruhigere und stabilere Zeiten gegeben hat. Falls sie sich dabei zu fest und bequem eingerichtet haben, ist das nun vorbei. Die Zeichen der Zeit stehen auf Aufbruch, Weitergehen und Öffnung. Um 1910 waren 61,4 % der Schweizer Wohnbevölkerung evangelisch-reformiert, 37,8 % römisch-katholisch und 0,2 % jüdisch. Die restlichen 0,6 % verteilten sich auf andere Religionen. Vor allem zwei Konfessionen einer Religion prägten vor hundert Jahren das Leben der Schweizer und Schweizerinnen.
2014 zeichnet sich ein ganz anderes Bild der Konfessionen und Religionen in der Schweiz. Es gibt noch 31,8 % evangelisch-reformierte und 37,3 % römisch-katholische Schweizer und Schweizerinnen. Bei den römisch-katholischen scheint es auf den ersten Blick fast keine Veränderung gegeben zu haben, von 37,8 % vor hundert Jahren auf 37,3 % 2014 ist eine sehr leichte Abnahme der Anzahl von Gläubigen. Die nackte Zahl erzählt jedoch noch nicht alles.
Von 1910 bis 1990 waren stets mehr als 60 % der Ausländer in der Schweiz römisch-katholisch, von denen später viele eingebürgert wurden. Darum sprechen Pfarreiräte und vor allem Pfarreirätinnen heute oft in gebrochenem Deutsch und die Erstkommunikanten und Firmlinge haben zumeist unschweizerische Nachnamen. Man kann nun darüber streiten, ob die römisch-katholische Kirche der Schweiz eine Migrantenkirche sei oder nicht. Nur noch die Bischöfe scheinen wirklich schweizerische Wurzeln zu haben. Kirchliche Mitarbeitende sind mehr und mehr der Bevölkerungsgruppe „Ausländer“ zuzurechnen.
Eine Vielfalt der Religionen und Konfessionen
Seit 1960 erhebt der Bund auch die Daten anderer christlicher, islamischer Glaubensgemeinschaften sowie anderer Religionsgemeinschaften. Im Total der Wohnbevölkerung gehörten 2014 5,7 % anderen christlichen Glaubensgemeinschaften an, 5,1 % den islamischen Glaubensgemeinschaften und 1,3 % anderen Religionsgemeinschaften. Das ergibt gut 12 %. Zählt man die bisherigen Prozentzahlen zusammen, dann fehlen immer noch gut 20 %! 2014 bezeichnen sich 23 % der gesamten Wohnbevölkerung der Schweiz als konfessionslos, was jedoch nicht mit religionslos zu verwechseln ist. So bezeichnet sich bei den Gästen des Klosters zum Mitleben in Rapperswil auch ein beachtlicher Anteil als konfessionslos und geht begeistert ins Gebet und vor allem in die Meditation.
Bei den Konfessionslosen zeigen die Statistiken ein weiteres interessantes Detail. Vermuten würde man, dass religiöse Menschen in die Schweiz einwandern und dass vor allem die Schweizer und Schweizerinnen durch Kirchenaustritt konfessionslos werden. Die Statistik von 2014 zeigt jedoch, dass nur 21,4 % der Schweizer und Schweizerinnen sich als konfessionslos bezeichnen, während sich 28,3 der Ausländer als konfessionslos bezeichnen. Es ist also zu erwarten, dass eingebürgerte Ausländer vor allem die Gruppe der Konfessionslosen stärken.
Der Weg verändert Inhalte
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil betrachtet sich die römisch-katholische Kirche nicht mehr als alleine seligmachend. Auch andere Konfessionen und Religionen führen neu zu Gott. Mag sein, dass gewisse institutionelle Theologen trotz Konfessions- und Religionsvielfalt noch gerne auf Abgrenzung, d.h. eigene Identität, setzen. Trotzdem scheint sich heute ein gemeinsames Lernen und auf den Weg gehen durchzusetzen. Ein schönes Beispiel dazu ist das Haus der Religionen in Bern. Wegen zu vielen Anfragen sind Führungen auf Monate hinaus ausgebucht.
Für viele Menschen wird heute das eigene religiöse Erleben wichtiger als Dogmen, die mehr und mehr kritisch beobachtet werden. Mystiker und Mystikerinnen aller Religionen stehen hoch im Kurs. Sie haben Gott erlebt, waren mit ihm auf dem Weg und können deshalb wirklich von Gotteserfahrungen erzählen. Vielleicht nicht mit abstrakter Begrifflichkeit und Sicherheit, dafür mit Authentizität und Offenheit für den Weg in die gemeinsame Zukunft. Weniger wissend, dafür vermehrt wartend auf Gottes Kommen in unsere Welt.
Dieser Artikel erschien im neuen Franziskuskalender 2017 mit dem Titel Weg weisen – wegweisen.
Quellen: 1910-2000 : VZ ; 2014 : Strukturerhebung
Auskunft: Informationszentrum, Sektion Demografie und Migration, 058 463 67 11, info.dem@bfs.admin.ch
© BFS – Statistisches Lexikon der Schweiz