Artikel aus ITE 2023/3; Ein gewonnener Krieg macht keinen Frieden
Frieden ist in steter Entwicklung und oft eher ein Wunsch für die Zukunft, denn Realität in der Gegenwart. Die Schweiz ist ein wunderbares Modell für Friedenspolitik. 2023 feiern wir 175 Jahre Schweizer Bundesverfassung und 75 Jahre AHV. Und immer noch wird am friedlichen Zusammenleben, auch am sozialen Frieden gearbeitet. Leben Schweizer*innen heute im Krieg oder im Frieden?
Als ich 2022 von Rapperswil ins Kapuzinerkloster Schwyz versetzt wurde, betrat ich einen neuen Kulturraum. Und natürlich besuchte ich das Eidgenössische Bundesbriefmuseum vor Ort. Die erste grosse Überraschung: Da gibt es nicht nur den einen berühmten Bundesbrief von 1291, sondern ganz viele solcher Briefe und Verträge aus dem Mittelalter. Am meisten imponiert hat mir der Vertrag von Uri, Schwyz und Unterwalden mit Bern, von 1353. Die Ur-Eidgenossen bekamen Angst vor dem aggressiven und sich expandierenden Bern. So bemühten sich Uri, Schwyz und Unterwalden um ein Bündnis mit dem unberechenbaren Nachbarn im Westen. Die stämmigen Innerschweizer fühlten sich mit einem Vertrag sicherer vor Bern und hatten erst noch einen guten Partner gegen Habsburg. Die drei Kantone versprachen im Gegenzug Soldaten, damit den Bernern an der Westfront die Söldner nicht ausgehen. In der Westschweiz zeugen heute noch viele Zwingburgen – vor allem am Neuenburger- und Genfersee – von diesem Ausbreitungsdrang der Berner.
Kriege in der Schweiz
Die zweite, noch grössere Überraschung für mich: Der letzte, mit Waffen ausgetragene, Bürgerkrieg auf Schweizer Boden fand 1847 statt – der Sonderbundskrieg. Vor 176 Jahren also. Und war es damit wirklich fertig? Im Jura-Konflikt gab es in unterschiedlichen Gegenden Menschen, die an andere Orte fliehen mussten, weil sie zur falschen Pro-Gruppe gehörten, Bern oder Jura. Migrant*innen im eigenen Land also. Ob dieser Konflikt jetzt befriedet ist? Oder wird das einst imperiale Bern weitere Gebiete abtreten müssen, die es dank Söldnern aus der Innerschweiz einst erobern konnte?
War die Schweiz seit 1847 wirklich ein befriedetes Land? Wie ist der Generalstreik von 1918 einzuordnen? Wie steht es mit unserem Frieden zu anderen Ländern, international? Gut achtzigjährige Schweizer*innen erinnern sich noch an Krieg, Kriegswirtschaft und Anbauschlacht. Und heute? Wie steht es mit unserem Verhältnis zu Russland? Ein harmonischer Friede oder eher ein Wirtschaftskrieg?
Konflikte und Lösungen bis 1848
Wie kam es eigentlich zum letzten (offiziellen) Bürgerkrieg der Schweiz? Der Historiker Georges Andrey fasst die komplexe und konfuse Vorgeschichte in der «Geschichte der Schweiz und der Schweizer» von 1986, Seite 621, in sehr dichter Form zusammen:
«Der Weg zum handlungsfähigen Bundesstaat führte durch Krisen und Spannungen verschiedenster Art, durch verdeckte Konflikte und offene Auseinandersetzungen, die nur hin und wieder durch Annäherungen und Akte der Versöhnlichkeit überbrückt wurden. Vor allem die Eidgenössischen Schützenfeste gaben jeweils Anlass zu Bekundungen von brüderlicher Solidarität und gemeinsamem Patriotismus. Krieg und Frieden zwischen den Kantonen waren der Ausdruck einer mühevollen Suche, eines langen Marsches von der alten Eidgenossenschaft zum modernen Bundesstaat. Konflikte und Spannungen kamen den Zeitgenossen stärker zum Bewusstsein als die Ansätze zu friedlicher Konfliktlösung. Auf institutioneller Ebene gab es aber beides, Konkordate und Konventionen auf der einen, Abspaltungen und Sonderbündnisse auf der anderen Seite, die das eidgenössische Zusammenleben zwischen 1803 und 1848 positiv und negativ beeinflussten.»
Der Sonderbundskrieg
Der Schweizer Bürgerkrieg von 1847 ist komplexer, als man sich denken könnte. Es geht nicht um katholische gegen reformiert-liberale Menschen. Denn auch katholische Kantone wie Solothurn, St. Gallen und Tessin kämpften mit der reformiert-liberalen Mehrheit. Interessanterweise sind die Anführer beider Seiten konservativ und reformiert. Beide Generäle waren weder katholisch noch liberal. Interessanterweise hat dieser Konflikt – langfristig gesehen – keine tiefen Wunden hinterlassen und ist heute fast vergessen.
Der Historiker Benedikt Meyer schreibt dazu: «‹Nous devons sortir non seulement victorieux, mais aussi sans reproche›*, hatte General Dufour seine Soldaten ermahnt. Und tatsächlich gab es fast keine Plünderungen, und die Verluste waren mit 93 Toten und rund 500 Verwundeten für einen Bürgerkrieg moderat. Dufour war nicht nur ein begnadeter Kartograf und Stratege, er gehörte später auch zu den Gründern des Roten Kreuzes. Nach dem Krieg erhielt die Schweiz 1848 ihre erste Verfassung, eine Hauptstadt und eine übergeordnete Regierung.» (Vgl. https://blog.nationalmuseum.ch/2019/08/der-sonderbundskrieg/)
Friedensarbeit: Pace e bene
Siegen, aber keine Vorwürfe machen, war das Motto während des Sonderbundkrieges. Auch wurden menschliche Übergriffe und Plünderungen unterlassen – eine Forderung, die schon Niklaus von Flüe an die Soldaten stellte. Die besiegten Kantone sollten nicht auf die Schlachtbank geführt, sondern möglichst integriert und in ihrem Stolz gestützt werden. Und wohl sehr wichtig; die neue Verfassung im amerikanischen Stil. Konflikte sollen nicht mehr mit Waffen, sondern durch eine Rechtskultur friedlich geregelt werden. Die erste Verfassung schien so gut gewesen zu sein, dass es in den vergangenen 175 Jahren nur zwei grössere Verfassungsreformen brauchte. Vielleicht kann man sagen, dass zum Frieden eine geregelte Konflikt- und Gerechtigkeitskultur gehört.
Doch gehört zum Frieden (pace) auch das Gute (bene). Was nützt einem hungernden alten Menschen die Freiheit, wenn daraus Tod wird. Gerade deshalb finde ich es schön und sinnvoll, dass wir dieses Jahr auch 75 Jahre AHV feiern. Denn ohne die nötigen Lebensgrundlagen, die sich im Verlaufe der Zeit verändern, bringt der schönste Frieden nichts. Wenn man heutige Armutsfaktoren betrachtet, dann sind beispielsweise alleinerziehende und alte Menschen besonders gefährdet. Der Geiz der Reichen stützt in solchen Situationen keinen sozialen Frieden.
Frieden für die Zukunft
Es mag sein, dass der letzte Bürger-Krieg in der Schweiz vor 176 Jahren stattfand. Doch sollten wir Schweizer*innen auch künftig am eigenen wie auch am internationalen Frieden arbeiten. Mit Recht und sozialer Verantwortung scheint es in der Vergangenheit im Bundesstaat gut gelaufen sein. Und da braucht es stets neue Justierungen und Verbesserungen. Und macht einander keine Vorwürfe, würde General Dufour mahnen.
* Überstzung: Wir müssen daraus nicht nur siegreich, sondern auch unbescholten hervorgehen.