Predigt vom 19. November; Mt 25,14-30
Vor gut zwei Monaten war die Medienkonferenz zur Voruntersuchung der Missbrauchsstudie. Die Medien waren vor und nach dem 12. September beschäftigt, neueste Erkenntnisse und Resultate zu kommunizieren. Es war für mich keine einfache Zeit und ich musste vieles hinnehmen und verdauen. Eine Zeitlang habe ich mich geschützt. Es braucht Zeit, Achtsamkeit und Geduld solche Meldungen zu verdauen. Traurig, schrecklich! Überrascht war ich, dass Vieles aktuell ist und auch die heutigen Bischöfe betrifft. Es geht nicht nur um alte Geschichten des letzten Jahrtausends. Das war mir neu.
Das Schlussdokument konnte ich in den ersten Tagen nicht lesen. Es wäre zu viel gewesen. Nach einigen Tagen habe ich mir dieses jedoch zu Gemüte geführt und ich war erstaunt, dass es mich nicht primär belastete, sondern mir auch Mut machte und Lösungswege aufzeigte. Einiges ist schon gelaufen, weiteres muss noch kommen. Da wartet noch viel! Trotzdem, das Denken an die Opfer macht betroffen und fordert kirchliches Handeln. Unsere Kirche ist leider keine Idealgesellschaft und auch die Kapuziner nicht, das sehe ich deutlich, tut weh.
Dieses Jahr durfte ich mit Karin Iten und Stefan Loppacher zwei Weiterbildungen für Kirchenräte der Landeskirche Schwyz organisieren. Sie zeigten auf, dass vieles in der Kirche im grünen Bereich liegt, einiges im grauen und weniges im roten Bereich; solches das nicht geht und Verbrechen sind. Und trotzdem bleiben wir als Kirche eingeladen eine gute Nachricht zu verkünden. Dazu braucht es Nähe und Distanz. Karin Iten erzählte von einer Predigt während einem Gottesdienst. Da war ein Prediger, der nie zu den Menschen aufgeschaut hat und keinen Kontakt zu den Trauernden aufbauen konnte. Das ist eine nichtgelungene Begegnung! Es braucht unbedingt einen Augenkontakt.
Vorletzte Woche hatten wir hier im Kloster eine Weiterbildung zu «Nähe und Distanz». Auch hier meinte der Referent «Angst und Vermeidung sind nicht die Lösung». Es braucht stets das richtige Mass. «Wann ist nah zu nah?» war eine Frage. Und in einem Haus mit Pflegestation stellt sich diese Frage besonders. 0-45 cm ist die intime Distanz. Diese braucht es bei der Körperpflege, muss aber vom Patienten angenommen werden und von Pflegenden stets angekündigt werden. Ab 45 cm bis 1 Meter 20 cm ist die persönliche Distanz; bis 3 Meter 60 die soziale Distanz und bis 7 Meter 50 die öffentliche Distanz. In Begegnungen braucht es definierte Rollen, Sorgfalt und Transparenz. Das richtige Mass.
Dankbar bin ich für unser heutiges Tages-Evangelium (Mt 25,14-30). Der dritte Diener handelt nicht mit seinen Talenten, Gaben, Fähigkeiten. Er vergräbt diese aus Angst und lässt sie brach liegen. Der Herr des Gleichnisses will jedoch, dass seine Diener mit ihren Talenten handeln. Nicht Angst und Vermeidung sind gefordert, sondern Lebendigkeit, Freude, ja sogar Risiko im Umgang mit eigenen Talenten und Fähigkeiten. Angst hilft hier nicht weiter. Sie führt ins Verderben.
Sören Kierkegaard unterscheidet zwischen Furcht und Angst. Bei Furcht wissen wir, wovor wir Angst haben. Wenn ich vor einem Löwen stehe, dann ist Furcht und die Flucht das gute Verhalten. Angst ist für den Philosophen und Theologen diffus, nicht greifbar und lebensbehindernd. Interessanterweise sprechen wir von Gottesfurcht und nicht von Gottesangst! Obwohl wir als Christen und Christinnen auf einen liebenden Gott bauen. Unsere Gottesfurcht nimmt ernst, dass Gott grösser, anders, unbegreifbar ist. Ein uns verborgenes Geheimnis also.
Der Neurologe und Psychotherapeut Erwin Ringel differenziert anders. Er nennt vier Typen von Angst. Reale, existenzielle, irreale und neurotische Angst. Irreale und neurotische Angst sind krankhaft und behindern das Leben. Die reale Angst deckt das Beispiel mit dem Löwen ab. Reale Angst kann überlebenswichtig sein und nötig. Die existenzielle Angst macht deutlich, dass unser Leben komplexer und vielfältiger ist, als uns lieb ist. Wir fühlen uns überfordert und kommen an unsere Grenzen. Wir bekommen Angst. Existenzielle Angst zeigt uns, wenn wir unser Leben auf Sand gebaut haben. Doch auch sie darf unser Leben nicht behindern. Talente müssen gelebt, gefördert und vermehrt werden.
Jesu Gleichnis zeigt, dass der Herr seinen Dienern eine gewisse Anzahl Talente gibt. Und diese muss der Diener einsetzen und fruchtbar machen. Es wird nichts Übermenschliches oder sogar Unmenschliches gefordert. Sondern mit unseren Gaben sollen wir handeln und die Welt gestalten und lebenswert erhalten. Diese Talente zu vergraben ist keine Lösung und führt nicht ans Ziel.
Dies Ziel unseres Lebens zeigt sich im Satz: «Komm, nimm Teil an der Freude deines Herrn!» Und dazu braucht es Lebendigkeit, Freude an den eigenen Fähigkeiten, aber manchmal auch den Mut zum Risiko. Angst kann weder für ein Individuum noch für eine Kirche die Antwort sein. Wir haben einen Auftrag vom Gott des Lebens und der Liebe. Und dieser fordert uns zum Leben und Lieben heraus. Dazu wünsche ich uns, aber auch der Kirche, viel Mut, lebensfreundliche Strukturen und einen kritischen Umgang mit unserer Vergangenheit, damit gutes Leben möglich wird.