Frieden feiern – Gerechtigkeit

Grundsatzartikel in ITE 2022/5

Franziskanisches Handeln kennt drei Dimensionen: Einerseits gut hinschauen und dann mit Elan handeln. Nötig dafür sind spirituelle Grundlagen, die dem Handeln Orientierung geben. Dieser Artikel vermittelt auf erzählerische Weise franziskanische Grundlagen fürs konkrete Handeln, das in den nachfolgenden Artikeln im Zentrum steht.

Kalt ist es draussen, es liegt matschiger Schnee auf dem Boden. Ein hellgelb erleuchteter Weg führt gerade zum nahen Hotel – und ein steiler dunkler Weg, mit Kerzen ausgeleuchtet, hinunter in den Ranft. Eine Gruppe Menschen macht sich auf den Weg in die tiefe Schlucht. In der Kapelle unten bei Bruder Klaus wollen sie für den Frieden beten. Jeder Schritt muss bedächtig gesetzt werden, es ist rutschig. Dieser Weg ist gelebte Friedensmeditation: Zu rasch entgleitet manchmal der Fuss, der Friede und wir Menschen haben das Nachsehen.

Auf dem dunklen Weg in die Schlucht hinunter halten die Menschen immer wieder an und gedenken schwieriger Situationen, Menschen, denen das weihnächtliche Licht zu wünschen ist. Unten angekommen, wendet man sich mit der Bitte um Frieden an Gott und feiert Gottes Friedensvisionen, wie sie beispielsweise im Psalm 85 aufleuchten: Es küssen sich Gerechtigkeit und Friede. Vielleicht trägt man konkrete Erfahrungen mit sich? Oft bleiben diese Visionen jedoch ein Wunsch für die Zukunft – und da gibt es noch Einiges zu tun! Auch für Gott. Darum: Komm Heiliger Geist …

Eine Friedensgeschichte

Diese Geschichte möchte ich frei nacherzählen:

Franz von Assisi keucht den Bergweg hoch. Durch die wunderbaren Kastanienwälder erreicht er das kleine Klösterlein Montecasale. Ruhig und beschaulich ist die Landschaft. Ideal für das Leben in Abgeschiedenheit und Gebet. Doch wehe dem Ankömmling. An dem abgelegenen Ort erwarten Brüder Franziskus in grosser Aufregung! «Franz, das kannst du dir nicht vorstellen», zischt ein erster Bruder, «da waren wir am Montag in der nahen Stadt arbeiten und trugen Brot und Früchte in unsere Einsiedelei hinauf. Am Mittwoch, während des Morgengebets, haben uns Räuber die ganze Vorratskammer geplündert und wir starteten den Tag mit Hunger.» «Lieber Franziskus», bittet ein anderer, «ich will weg von hier. In der Stadt unten sagen sich die Bürger, wir seien völlig verfressen. Seit Wochen bestehlen uns die Räuber. Wir müssen stets von neuem zu den Menschen gehen und um Nachschub fragen. Das ist peinlich, das halte ich nicht aus!» Kaum hat der zweite geendet, findet der dritte Bruder: «Weg müssen sie, diese Diebe. Einfach weg. Ich bin hierhergekommen, meinen Frieden zu finden und in Stille bei Gott zu sein. Aber das ist Schnee von gestern.»

Franziskus hatte sich seinen Aufenthalt in der Einsiedelei etwas beschaulicher vorgestellt. Doch wird von ihm eine Antwort erwartet und er will diese auch geben. Seine Mitbrüder, aber auch die Brüder Räuber, tun ihm leid. Nach stillem Beten und Nachdenken ruft Franz seine Mitbrüder zu sich und rät ihnen zu folgendem Vorgehen: «Liebe Brüder, wenn ihr das nächste Mal von der Stadt in die Einsiedelei kommt, dann nehmt die Hälfte der Esswaren für euch. Mit der anderen Hälfte geht ihr in den Wald, breitet in der Lichtung oben die Gaben auf dem Boden sorgfältig aus, zieht euch zurück und ruft den Räubern: Liebe Leute, ein Geschenk für euch›. Ab dem dritten Mal bleibt ihr in der Nähe der Lichtung stehen, ab dem fünften Mal bedient ihr selber die Räuber. Und dann sehen wir weiter. Gebt mir Bescheid.»

Die Brüder schlucken schwer, als Franziskus aufbricht. Aber man kann ja einen Heiligen nicht um Hilfe fragen und dann nicht nach seinen Ratschlägen handeln. Und so tun die Brüder in den kommenden Wochen, wie Franz es ihnen geraten hat. Beim ersten Versuch zittern die Brüder wie Espenlaub, oder waren es vielleicht die Räuber, die innerlich verängstigt zittern? Je öfter man die Räuber trifft, desto mutiger und kecker wird das Auftreten der Brüder. Mit der Zeit kennt man sich und beginnt zu scherzen. Die Brüder realisierten: Die Räuber waren aus der Stadt vertrieben worden, geächtet und fanden im Wald wenig Essen und keine Arbeit. Sie lebten als Vertriebene und hinter jedem von ihnen verbarg sich eine leidvolle Lebensgeschichte.

Die Legende endet damit, dass einige Räuber menschenfreundliche Franziskaner wurden, die anderen anständige Bürger der Stadt. Stadt und Umgebung erlebten wirtschaftlichen Aufschwung und niemand musste mehr Angst haben, in den Wald zu gehen. Selbst kleine Kinder konnten im Wald Pilze sammeln gehen und riefen sie nach den Räubern, kamen Brüder.

Bilder und Deutungen

Brasilianische Mitbrüder deuten diese Franziskuslegende wie folgt: Menschen, die das Nötige fürs Leben haben, müssen nicht gefürchtet werden. Vor allem gerecht integriert müssen sie sein. Wie Jesus oder Franziskus sollen die Christinnen und Christen sich besonders für Aussenseiter einsetzen und so dürfen sie manchmal die Erfahrung von Montecasale machen, dass Räuber gar nicht zu fürchten sind. Im Gegenteil. Gottes Geist wirkt auch in ihnen Grosses.

Ein anderes Bild des Franz von Assisi, das auch Papst Franziskus aufgegriffen hat, ist jenes der Geschwisterlichkeit: Christen und Christinnen, ja alle Menschen, haben einen gemeinsamen Vater, eine gemeinsame Mutter im Himmel. Das macht Menschen unter sich, aber auch mit Tieren und Pflanzen zu Brüdern und Schwestern, zu Geschwistern. Und das verbindet familiär. Stimmt, auch Geschwister gehen nicht immer friedlich miteinander um. Aber die Vorstellung der Geschwisterlichkeit stellt uns auf die gleiche Stufe. Gut, auf Erden fehlt uns manchmal der Vater oder die Mutter, die die Gaben der Gerechtigkeit und des Versöhnens haben. Dann sollen die älteren und vor allem die weiseren Geschwister für Gerechtigkeit und Frieden sorgen.

Ausblick

Heute ist Gerechtigkeits- und Friedensarbeit komplex und anspruchsvoll. Diese ITE-Ausgabe erzählt von unterschiedlichen franziskanisch Engagierten. Der Schweizer Kapuziner Adrian Holderegger arbeitet bei der UNO als «Ambassador for Peace». «Franciscans International» engagiert sich seit mehr als dreissig Jahren als NGO bei den Vereinten Nationen. Unser Westschweizer Mitbruder und Missiologe Bernard Maillard erzählt von seinen Erfahrungen mit ACAT (Action Chrétienne pour l’Abolition de la Torture) in ausländischen Gefängnissen. Ach ja, kennen sie die «Roten Kapuziner» der Westschweiz? Beat Baumgartner weiss mehr …

Chestenenweid über Weggis

Waltdstätterweg, Etappe 7: Vorbei geht die Wanderung an Obstgärten bis Oberwilen und über die Molasse-Stufe mit Leitern, die früher nur hier die Landverbindung nach Weggis ermöglichten. Durch das Naturschutzgebiet Chestenenweid nach Hertenstein.

Marroni in der Zentralschweiz: Seit dem Mittelalter kultivieren die Menschen nördlich der Alpen die Edelkastanie. Die ersten urkundlichen Erwähnungen finden wir in der Zeit der jungen Eidgenossenschaft: 1340 in Schwyz; 1378 in Weggis und Walchwil. Chestene ist Mundart für Marroni.

Christkönigsfest

Predigt vom 20. November 2022; 2 Sam 5,1-3; Lk 23,35b-43

Liebe Untertanen, liebe Untertaninnen
Oder doch besser, helvetischer:
Liebe Eidgenossen, liebe Eidgenossinnen
Oder etwas theologischer, schweizerischer:
Liebe Bundesgenossen, liebe Bundesgenossinnen

Wissen Sie, welches die Hauptstadt der Schweiz ist? Bern? Achtung, mit dieser Antwort würden sie die Aufnahme-Prüfung für die Eidgenossenschaft nicht bestehen. Mit der Antwort «Bern» könnten Sie nicht Schweizer oder Schweizerin werden! Die Schweiz hat keine Hauptstadt! Bern ist unsere Bundesstadt. Diese Antwort wird bei der Einbürgerung erwartet.

Heute feiern wir Christkönigssonntag. Als Schweizer und Schweizerinnen wissen wir, dass es in Märchen Könige gibt. Das gehört in solchen Erzählungen irgendwie dazu. Aber für das englische Königshaus haben wir ein mildes Lächeln übrig. Netflix hat eine unterhaltsame Serie daraus gemacht. Selber König oder Königin sein wäre vielleicht lustig, aber Untertan oder Untertanin sein. Nein danke. Da spielen wir Eidgenossen und Eidgenossinnen nicht mit.

Papst Pius XI. hat nach dem ersten Weltkrieg, 1925, das Christkönigsfest eingeführt. Er fürchtete sich vor demokratisch geprägten Staaten. Die Zeit der Monarchien ging trotz diesem Fest zu Ende und selbst die Päpste sind heute keine adligen Monarchen mehr. Papst Franziskus betont Synoden, wie sie vor allem in der Lateinamerikanischen Theologie der letzten fünfzig Jahren wichtig und prägend geworden sind. Darum sind wir auf dem synodalen Weg.

Der jetzige Papst Franziskus war Vorsitzender der Reaktionskommission des wichtigen Dokuments der lateinamerikanischen Bischöfe (CELAM=Consejo episcopal latinoamericano) von 2007. Darin fliessen die wesentlichen Anliegen und Dynamiken der lateinamerikanischen Befreiungstheologie zusammen: Erneuerung aus dem Evangelium, Option für die Armen, Kirche der Partizipation, soziales Engagement, Gerechtigkeit für alle. Papst Franziskus hat lateinamerikanische Erfahrungen mit Synoden und Synodalität und will diese nun in der Weltkirche fruchtbar machen. Könige kommen da keine vor.

Aber wie steht es nun um Könige in der Bibel? Interessanterweise hat schon das Alte Testament ein gespaltenes Verhältnis zum Königtum. Denn – wie singen wir auch heute – König ist der Herr. Gott ist König und nicht Menschen. Und Gott, der König Israels, setzte Richter und Retter ein. Darum war beispielsweise Samuel ein charismatisch berufener Führer und wies das Königtum weit von sich. Samuel ist doch nicht Gott. Doch die Israeliten waren unglücklich. Alle Nachbar-Völker hatten Könige, nur Israel nicht. Und ein Gott im Himmel ist doch völlig uncool und so fern! Gott gab nach. Saul, David und Salomon wurden zu den grossen Königen Israels. Gott betont in der heutigen Lesung aus dem zweiten Buch Salomon, dass David dem Volk Israel ein Hirte sein soll. David wird durch einen Vertrag vor Gott als König zurückgebunden und in seiner Macht gemässigt.

Einen Schritt weiter geht das heutige Tagesevangelium. Über dem gekreuzigten Jesus von Nazareth steht: Das ist der König der Juden. Wie bitte? Nicht besser ein König der Christen, der Christinnen? Machtlos und dem Tode nahe hängt Jesus zur Schau gestellt, am Kreuz. König der Juden. Sein Reich ist nicht von dieser Welt oder zumindest anderer Art als wir uns dies vorstellen. Und trotzdem bleibt die Verheissung vom Reich Gottes. Dem Verbrecher sagt Jesus: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.

Liebe Schwestern, liebe Brüder

Wir wollen und können uns nicht auf ein Jenseits vertrösten. Leben tun wir hier auf Erden und hier tragen wir Verantwortung, für das Leben, für Menschen, für das Gemeinwohl, für Pflanzen und Tiere – das hat Gott uns aufgetragen.

Gemeinsam müssen wir handeln und positiv wirken, dem Leben dienen. Organisiert und wirkungsvoll. Dies auf vielen Ebenen. Die Rettung liegt nicht mehr in einzelnen Helden oder Königen oder Herrschern, sondern im Zusammenstehen, in Konferenzen, Konzilien, Synoden, im gemeinsam Wege suchen und finden. International gesehen scheint mir die Uno wichtig, im Moment der Weltklima-Gipfel, die G20 und andere Konferenzen und Organisationen. Auf die Schweiz bin ich stolz, doch auch hier gibt noch viel zu tun. Im Umweltschutz gilt die Schweiz plötzlich nicht mehr als Vorbild, sondern als internationaler Klima-Sünder. Und was wir als verantwortungsbewusste Christen und Christinnen in unserem Alltag zu tun haben, wissen wir gut.

Am Christkönigssonntag würde ich nicht an Begriffen oder Bildern festhalten. Diese sind auswechselbar, verändern im Laufe der Zeit oder prägen sich an unterschiedlichen Orten unterschiedlich aus. Wichtig scheint mir für uns Gläubige. Gott ist da, Gott wirkt, Gott hat uns Menschen eine besondere Verantwortung übergeben. Und diese fordert, belastet manchmal, ist nicht nur sun, fun and nothing to do. Im Gegenteil. Manchmal auch im Schweisse unseres Angesichts, im Klären von Konflikten wollen wir unsere Verantwortung wahrnehmen für unsere Welt, für Gottes Schöpfung. Und dies nicht als Einzelne, sondern als Geschwister gemeinsam auf dem Weg. Amen.

Ich habe den Lauf vollendet

Predigt vom 23. Oktober 2022, Weltmissionssonntag; 2 Tim 4,6-8; Lk 18,9-14

Liebe Mitfeiernde, vielleicht auch missionarische Menschen
«Die Zeit meines Aufbruchs ist nahe. Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt.», sagt Paulus im 2. Brief an Timotheus. Da kann einer abschliessen und aufbrechen. Das macht mir Eindruck. Und zwar ist Paulus der Meinung, seine Aufgabe erfüllt zu haben. Das ist nicht Flucht oder Scheitern. Nein, Paulus hat Gottes Auftrag erfüllt. Er kann gehen. Ja sogar, Paulus hat seinen Auftrag hier auf Erden erfüllt und freut sich auf Gottes himmlisches Reich.

Als Kapuziner kenne ich auch mal die kleinen irdischen Aufbrüche. Ich war in Solothurn, Rapperswil, Luzern, Rom – doch diese Phasen sind vorbei. Jetzt bin ich hier in Schwyz und eines Tages wird auch das vorbei sein, spätestens dann, wenn auch ich mich ins himmlische Reich verabschiede.

Ich weiss, das ist oft leichter gesagt, denn überzeugend gelebt. Schon als einzelner ist das Weitergehen manchmal nicht ganz einfach. Doch für Institutionen scheint mir solches Abschiednehmen häufig noch schwieriger und komplexer zu sein. Die Jungen sollen doch übernehmen und weitertragen, heisst es gerne. Was ist aber, wenn diese Jungen nicht mehr vorhanden sind, wenn beispielsweise den Ordensgemeinschaften der Nachwuchs ausfällt? Oder wenn die Jungen mal einfach andere Wege gehen wollen, vielleicht sogar im Wandel der Zeiten andere Wege gehen müssen.

Letztes Jahr feierten wir Kapuziner 100 Jahre Mission in Tansania, dieses Jahr 100 Jahre Mission in den Seychellen und kommendes Jahr 100 Jahre Mission auf Madagaskar. Die Schweizer Kapuziner haben in den letzten Jahren viele Brüder in die Missionen geschickt. Doch heute gibt es keine jungen Schweizer Brüder mehr, die in Missionen gehen. Einige alte Missionare verbringen gut umsorgt ihren Lebensabend in den Ländern des Südens. Ob die Schweizer Provinz will oder nicht, sie muss loslassen – auch da wo die Missionen nicht nur von Erfolg gekrönt waren. Auf den Seychellen war es beispielsweise nicht möglich, eine einheimische Kapuzinerprovinz zu gründen. Man hat es zwar versucht, aber ohne Erfolg.

Können wir vertrauen, dass unsere Arbeit erfüllt ist? Paulus hat geschrieben: Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt. Wir Kapuziner müssten heute auch sagen können: Wir Brüder haben den Menschen in Tansania, auf den Seychellen und in Madagaskar das Evangelium gebracht, unsere Arbeit getan und Gott die Treue bewahrt. Dieser Auftrag ist erfüllt.

Spannend finde ich, dass heute am Missionssonntag der Lesung von Paulus das Evangelium vom Pharisäer und vom Zöllner zur Seite gestellt wird. Lk 18,9-14. Stimmt, die Lesung könnte uns Brüder als Pharisäer dastehen lassen. Ist da denn wirklich alles gut gelaufen oder müssten wir Brüder wie der Zöllner uns an die Brust schlagen und beten: Gott sei mir Sünder gnädig; Gott sei uns Sünder gnädig. Ich weiss, es ist schöner, wie der Pharisäer zu reagieren, aber wohl ehrlicher differenziert und selbstkritisch hinzusehen. Denn da war nicht alles Gold und der Vorwurf des Kolonialismus ist leider nicht wegzuweisen. Schweizer Kapuziner waren oft die reichen Onkel und hatten ihre Boys, die für sie schufteten. Tansania stimmt an der UNO für Putin und nicht mit der Schweiz. Andererseits leben heute mehr Kapuzinerbrüder in Tansania als in der Schweiz und die Brüder aus Tansania gehen in andere Länder als Missionare Jesus Christus verkünden.

Und so ist zu hoffen, dass Jesus Christus auch zu uns Schweizer Brüder wie zum Zöllner sagt: Dieser ging gerechtfertigt nach Hause hinab. Also: Ihr ginget gerechtfertigt in die Schweiz zurück. Und schön wäre es, wenn Jesus Christus uns Brüdern zusätzlich auch sagen würde: Ja, ihr habt den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt.

Liebe Mitfeiernde, die Missionen in Tansania, auf den Seychellen und in Madagaskar waren nicht nur eine Kapuzinerangelegenheit, sondern ebenso das Werk von Ihnen, Menschen die unsere Missionare unterstützt haben und heute die jungen Kirchen vor Ort noch immer mittragen. Als Redaktor unserer Missionszeitschrift ITE weiss ich um ihre Unterstützung und um ihren guten Kampf. Da sage ich «Vergelt’s Gott». Amen

Extreme Armut und Menschenrechte

Predigt vom 25. September 2022, Am 6,4-7; Lk 16, 19-31

Liebe besorgte und vielleicht auch verunsicherte Menschen
Für unsere Kapuziner-Zeitschrift ITE durfte ich in den letzten Tagen ein Interview mit Sandra Epal-Ratjen machen. Die Juristin arbeitet für Franciscans International in Genf bei den Vereinten Nationen und beschäftigt sich besonders mit dem Leitfaden zu extremer Armut und Menschenrechten, wie ihn die UNO vor zehn Jahren verabschiedet hat. Dieses Jahr ist das zehnjährige Jubiläum und es kann einiges gefeiert werden. Denn, vor allem bis Corona, konnte weltweit einiges erreicht und verbessert werden. Die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, konnte markant verringert werden. Corona hat die Entwicklung leider behindert und verhindert.

Was ist extreme Armut? Besser, welche Faktoren führen da hinein? Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Arjun Sengupta, kennt drei konstitutive Merkmale von Armut:
– Geringes Einkommen,
– geringe Entwicklungschancen
– sowie soziale Ausgrenzung.

Um Menschen aus extremer Armut befreien zu können, muss ihnen also ein gutes Einkommen, persönliche Entwicklungschancen und soziale Integration ermöglicht werden. Und das bedeutet auch Menschenrechte einzufordern und durchzusetzen. Zum Beispiel auch ein Recht auf Bildung. Oft kennen extrem arme Menschen ihre Rechte nicht und können diese nicht einfordern. Deshalb begleitet die Juristin Sandra Epal-Ratjen in ihrer Freizeit Menschen auf ihren Behördengängen.

Als Sandra mir von Amtsstuben erzählte, kam mir mein Studienbeginn in Rom in den Sinn. Die Mühlen von Universitäten sind exakt und herausfordernd. Und dies alles in fremder Sprache. Zum Glück gab es erfahrene Mitbrüder, die mir einiges regelten und gute Tipps für die Anmeldungen an der Uni sowie für das Leben in Italien gaben. Eine Erfahrung, die wohl auch Menschen in der Schweiz heute machen, wenn sie von uns Einheimischen unterstützt werden. Meine Mutter hat ukrainische Flüchtlinge aufgenommen und mir davon erzählt, wie anspruchsvoll die Behörden in der Schweiz sind. Als Politikerin hatte sie oft mit Behörden zu tun und ich male mir aus, wie sie da ihre ukrainischen Gäste begleitet hat. Ihre Erzählungen und Amts-Erfahrungen waren jedenfalls spannend! Sandra Epal-Ratjen erzählte mir von Menschen von überall auf der Welt, die sich so für Arme einsetzen. Ich durfte diese Erfahrung in Kenia machen, wo sich Brüder in den Slums für Rechtlose wehren (Vgl. Bild).

Schon das Buch Amos lädt uns intensiv zur Hilfe und Integration von Armen ein: «Das Fest der Faulenzer ist vorbei!» ruft uns der Prophet zu. Seid nicht zu sorglos und zu selbstsicher! Ihr habt eine Verantwortung, wenn andere Leiden und Untergehen. Auch der Evangelist Lukas betont die Verantwortung im Leben. Unser Handeln kann nach der Erzählung vom Reichen und von Lazarus nicht in die Zukunft oder sogar in den Himmel verschoben werden. Es sind diese beiden Texte zwei eindrückliche Zeugnisse für unsere von Gott gegebene Verantwortung für unsere Nächsten, für arme Menschen. Aufforderung zum Einsatz gegen Armut und Rechtlosigkeit!

Und trotzdem, liebe GottesdienstbesucherInnen, möchte ich an dieser Stelle auf das Buch Factfullness hinweisen, das 2018 – also noch vor Corona – publiziert wurde. Und darin werden Fakten aufgezählt, dass die Welt auch gut ist und sogar besser geworden ist. Zum Beispiel:

  • Wussten Sie, dass 60% der Mädchen aus Entwicklungsländern eine Grundschule besucht haben? Tendenz steigend.
  • In den letzten zwanzig Jahren, vor 2018, hat sich der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, halbiert. Nicht schlecht!
  • Die Lebenserwartung weltweit ist bei 70 Jahren. Hätte ich nicht geahnt.
  • 80% der Kinder weltweit werden geimpft. Die Überlebens-Chancen steigen also.
  • 90% der 30jährigen Frauen waren 9 Jahre in der Schule, Männern 10 Jahre in der Schule. Ein Jahr länger. Doch gibt solche Bildung Hoffnung für die Zukunft.
  • 1996 galten Tiger, Riesenpandas und Spitzhorn-Nashörner als stark vom Aussterben bedroht. Die Bedrohung dieser Tiere ist zurückgegangen.
  • 80 Prozent der Menschen der Welt haben heute Elektrizität zur Verfügung. Das ist vor allem wichtig zur Verbesserung der Bildungschancen. Man kann auch bei Dunkelheit noch arbeiten.
  • Vgl. dazu: https://wachstumstracker.de/factfulness-quiz/

Es ist klar, dass extreme Armut noch nicht verschwunden ist und dass immer noch Menschen auf ihre Menschenrechte warten – und wir bleiben in der Verantwortung sind. Die oft kurzfristigen Bad News der Medien sind zwar wichtig, doch nicht die ganze Wahrheit. Es ist einiges besser geworden in den letzten Jahrzehnten. Und so dürfen auch wir mit den Vereinten Nationen feiern, dass einiges besser geworden ist! Und eingeladen sind wir an unserem Ort, uns und in der Welt für bessere Bedingungen einzusetzen. Amen.

Missionskalender 2023

Edito: Das Leben hat seine wunderschönen Seiten, doch fühlen und erleben wir manchmal seine Verletzlichkeit. Lebens-Stürme können uns zusetzen und die Freude sowie den Mut nehmen. Man möchte dem Leiden ausweichen, so gut es geht. Doch gehören offene Fragen, Krankheiten, Verletzungen zu unserem Leben. Wir können ihnen nicht entkommen. In solchen Situationen fühlen wir, ob unser Boden trägt oder nicht.

Matthäus kennt ein Gleichnis vom Hausbau (Mt 7,24-27). Dabei unterscheidet Jesus bildlich zwei Situationen. Man kann ein Haus auf Felsen bauen oder eben auf Sand. Nach dem Bau stehen beide Häuser und können bezogen werden. Es scheint beiden Häusern gut zu gehen, doch unerwartet kommen Regen und Wind, Unwetter; das Haus im Sand stürzt ein und wird unbewohnbar.

Jesus warnt mit diesem Gleichnis von falschen Propheten und lädt uns ein auf ihn zu hören, gute Früchte zu bringen. Der Verfasser des zweiten Briefes an Timotheus kennt die Herausforderungen des Lebens und verweist auf das «Fundament Gottes». Wer auf Gott baut, der/die darf wissen, dass er/sie von Gott gekannt wird und zu IHM gehört. Er/sie meidet dann aber auch das Unrecht und setzt sich für das Leben, für die Gerechtigkeit und den Frieden ein.

… Ich verstehe den Missionskalender der Schweizer Kapuziner dieses Jahr als eine stete Einladung, uns jeden Tag wieder neu auf unsere Fundamente des Lebens zu besinnen und dann allein und mit anderen begeistert am Reich Gottes mitzubauen. Und vielleicht sind die Termine, die sie in ihm eintragen, ein steter hoffentlich freudiger Aufbruch in das Land des Friedens und der Liebe. Und vielleicht tragen Sie sich ja ab und zu einen Stille-Moment oder ein Verweilen in der Natur darauf ein. Ein tragendes 2023 wünsche ich Ihnen.

Hier kann der Kalender bestellt werden.

Ausgleich, nicht Umsturz

Predigt zu Maria Himmelfahrt, Lk 1,19-56

Liebe Gottes-Jublerinnen, -Jubler
Vor dreissig Jahren, am 8. September 1992, legte ich mit fünf weiteren Novizen im Kapuzinerkloster Solothurn meine einfache Profess ab. Damals wünschten wir Novizen vom Prediger eine Auslegung zum Magnifikat – wie wir es heute im Tages-Evangelium gehört haben. Doch höre, lese und verstehe ich diesen marianischen Lobgesang heute anders als bei meinem Ordenseintritt.

Vor dreissig Jahren war ich voll Tatendrang und wollte die Welt verändern und verbessern. Im Kopf sprudelten die Welt-Veränderer-Predigten und -Taten nur so dahin. Die Kapuziner waren die Gemeinschaft, mit der ich diesen Umsturz tun wollte, und mit den Brüdern am Reich Gottes mitarbeiten konnte. Ich suchte eine Gemeinschaft, die gegen die Ungerechtigkeiten der Welt aufsteht, den Bösen den Garaus macht und die Unterdrückten befreit. Das Magnifikat war für mich ein Befreiungsgesang der Kleinen, die sich gegen die Grossen stark machen. Da wird umgeschichtet, neu verteilt. Die Mächtigen neu unten und die Unterdrückten neu oben. Die Welt wird auf den Kopf gestellt.
Doch steht das wirklich im Magnifikat?

Auch wollten wir Novizen damals, dass Gemeinschaft im Gottesdienst ernstgenommen wird. Wir brachten dies damals ins Hauskapitel und kamen durch. Die Priester forderten in den folgenden Gottesdiensten die Besucher und Besucherinnen dazu auf, während dem Gottesdienst in die vorderen Reihen zu kommen und nicht hinten in der Kirche sitzen zu bleiben. Ob die Menschen daran Freude hatten oder sich eher vergewaltigt vorkamen?

Das war vor dreissig Jahren. Und heute? Vieles anders!

Ehrlicherweise schäme ich mich heute selber etwas, während dem Gottesdienst vorne in der Kirche zu sitzen. Mein Platz ist gefühlsmässig im hinteren Drittel dieser Kirche. Und das nicht, weil Jesus in einem Gleichnis das hinten sitzen gelobt hat und das vorne Sitzen in den Zusammenhang von Selbstgerechtigkeit gestellt hat. Nein, es ist die gesunde Scham, die mir sagt, da hinten ist ein guter Platz und da bist du zu Hause; da fühle ich mich wohl.

Bin ich damit auf dem Holzweg? Nein, damit bin ich ein Mensch unserer Zeit. Der Theologe Kristian Fechtner verbindet für heutige Christen und Christinnen Scham und Religion. Er spricht von einem diskreten Christentum. Und das zeigt sich konkret auch darin, dass viele Menschen lieber hinten in der Kirche sitzen und so etwas Distanz zum Altar haben. Das diskrete Christentum zeigt sich aber auch im Alltag; und es ist immer mehr meine Art von Glauben geworden.

Von Maria lesen wir in Lukas 2,19: «Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen». Ja, eine solche Herzens-Religion ist mir in den vergangenen Jahren aufgegangen, wichtig und vertraut geworden. Auf eine laute oder sogar brutale Umsturz-Religion baue ich heute nicht mehr. Im Gegenteil. Sie macht mir Angst. Ihr fehlt es an Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Liebe und Tiefe.

Und wenn ich heute immer noch oft und gerne das Magnifikat bete, dann höre und verstehe ich diesen Lobgesang Mariens nicht mehr umstürzlerisch, sondern vertrauend und prophetisch. Was steht nun in diesem wunderbaren Gebet und was habe ich früher vielleicht hineingelesen?

  • Denn der Mächtige hat Grosses getan – nicht ich, Adrian, und nicht ein anderer Mensch hat hier grossartig gehandelt. Gott selbst wirkt und verändert Menschen und Lebens-Situationen! Und zwar:
  • Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind – ebenso junge Kapuziner, die die Welt auf den Kopf stellen möchten. Die die Bösen vielleicht sogar leiden sehen möchten. Doch, Gott wirkt anders, diskreter, schöpferischer, lebensbejahender.
  • Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Früher dachte ich jeweils, dass anschliessend die Mächtigen unten sind und die Niedrigen oben. Doch steht das nirgends. Heute stelle ich mir vor, dass es da nicht um Bestrafung geht, sondern alle werde als Kinder Gottes auf dieselbe Stufe gestellt. Als Geschwister loben wir gemeinsam Gott und seine Schöpfung. Dafür müssen die einen heruntersteigen und die anderen hinaufsteigen. Dann stehen wir auf derselben Stufe.
  • Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Auch hier stelle ich mir heute nicht mehr eine Umkehrung der Verhältnisse vor, sondern einen Ausgleich. Hungernde und Reiche sollen Nahrung haben und leben können. Dazu brauchen die Hungernden Gaben, die Reichen haben diese ja schon. Das Getreide ist für alle da. Alle dürfen satt werden. Fair verteilt. Dann gibt es keine Hungernden mehr. Ein friedlicher und fairer Ausgleich der Güter also.

Und genau solche Bewegungen feiern wir an Mariä Himmelfahrt. Hier handelt Gott und wir gedenken, wie Gott Maria bei sich aufgenommen hat. Wir werden eines Tages die nächsten sein, die von Gott aufgenommen werden. Im Moment heisst das Taten der Gerechtigkeit tun. Das Leben allen Menschen, der ganzen Schöpfung fair ermöglichen. So kann ich mich eines Tages ihrer, wie auch meiner eigenen Himmelfahrt freuen. Denn der Mächtige hat Grosses an mir getan und sein Name ist heilig. Das werden wir eines Tages gemeinsam mit Maria und Jesus von Nazareth singen. Denn der Mächtige hat Grosses an uns getan und sein Name ist heilig. Amen.