Solidarität statt Perfektionismus

Predigt vom 13. Oktober 2024, Mk 10, 17-30

Perfektionismus ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das in erster Linie durch sehr hohe Massstäbe, einer Rigidität der Massstäbe und einem leistungs-abhängigen Selbstwert charakterisiert ist, sagt Nils Spitzer. Vgl. Wikipedia, Perfektionismus (Psychologie). Nach meiner Einschätzung sind religiöse Menschen oft moralische Perfektionisten. Auch Franz von Assisi wusste dies und gab Gegensteuer. So ging der Heilige einen Monat auf die Isola Maggiore im Trasimenischen See meditieren und fasten. Doch nahm der Heilige ein Brot mit und begann vor dem Ende des Aufenthalts dieses Brot zu Essen. Dies aus Respekt vor Jesus von Nazareth. Denn Franziskus wollte Jesus mit dem vierzig Tage Fasten den Vortritt lassen. Der Heilige kannte Bescheidenheit in religiösen Dingen. Ein anderer hätte 41 Tage gefastet und sich gerühmt, länger als Jesus gefastet zu haben!

Eine weitere Franziskus-Fastengeschichte erzählt, wie der Heilige mit Brüdern am Fasten war. In der Nacht schrie ein Mitbruder vor Hunger auf. Franziskus hörte den leidenden Mitbruder, stand auf und war der Erste, welcher das Fasten brach und dem leidenden Mitbruder das Brot brach und zum Geniessen aufforderte.

Im heutigen Tagesevangelium (Mk 10,17-30) begegnet Jesus einem Mann, der das ewige Leben will. Dabei baut dieser auf eigene Leistung. Er hält Gottes Gesetze durch und durch. Interessanterweise weist selbst Jesus das Gutsein zurück und verweist auf Gott, der allein gut sei. Gutsein ist keine menschliche Leistung oder Eigenschaft, die man sich durch das Beobachten von Geboten und Vorschriften verdienen kann.

Jesus sieht den Mann verstehend an und umarmt ihn. Jesus attestiert dem Mann, dass er Gottes Gesetze auch wirklich erfüllt hat. Doch um solchen Perfektionismus geht es im religiösen Leben nicht, oder vielleicht auch nicht zuerst. Dem Mann fehlt die Solidarität mit den Menschen, mit den Armen. Das ewige Leben verdient man nicht für sich selbst, sondern in Gemeinschaft mit Menschen, vor allem mit den Menschen am Rande, mit denen die Leiden, mit denen, die nichts haben. Der religiös perfekte Mann geht traurig von Jesus weg. Trotz seinem ethischen Perfektionismus bleibt ihm das ewige Leben verwehrt, vielleicht auch vordergründig verwehrt. Denn eben, Gott kann alles. Wer weiss das schon?

Die Jünger bleiben bei Jesus und sind schockiert. Im Gegensatz zum nun enttäuschten Mann wissen sie, dass sie auch schon versagt haben. Vor allem Petrus wird uns in den Evangelien als kein perfekter Mensch geschildert. Er versteht Jesus nicht immer, vor allem die gefährliche Reise nach Jerusalem nicht. Erinnern wir uns an Markus 8,33: «Jesus aber wandte sich um und sah seine Jünger an und ermahnte den Petrus ernstlich und sprach: Tritt hinter mich, Satan! Denn du denkst nicht göttlich, sondern menschlich!»

Auch im heutigen Tagesevangelium werden wir aufgefordert, denk göttlich und nicht menschlich, lebe Nächstenliebe, Selbstliebe und Gottesliebe. Aber eben das ewige Leben ist und bleibt ein Geschenk Gottes an den Menschen. Da helfen uns weder unsere religiösen und moralischen Leistungen noch unser Geld, unser irdischen Reichtum – und vor allem nicht diese in perfekter Reinkultur. Zuerst geht es einmal um Solidarität und Dankbarkeit.

Und eben, auch das gläubige Leben bringt wunderbare Früchte der Gemeinschaft und der Solidarität: «Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben.» Mk 10,30

Dazu braucht es keinen Perfektionismus und auch nicht die ihm zugehörige Angst alles richtig zu machen, sondern Freude und Gewissenhaftigkeit – als positiver Begriff an Stelle des Perfektionismus – im Tun. Und vor allem einen liebenden Gott im Himmel, der möglich macht, was uns Menschen unmöglich und vermutlich auch unvorstellbar ist. Amen.

Für Gott ist alles möglich

Vom 1. bis zum 15. Oktober bin ich mit der Zürcher Telebibel unterwegs. Meine Impulse lassen sich vom Buch der Weisheit (Altes Testament) und dem Markus-Evangelium inspirieren.

Das griechische Wort «Theo-rie» heisst wörtlich «Gottes-schau». So sind wir gespannt, welche Entdeckungen uns das Buch der Weisheit machen lässt.

«Niemand ist gut, ausser Gott», so sagt es Jesus von Nazareth. Und glücklicherweise ergänzt er: «Für Gott ist alles möglich».

Hier geht es weiter zu der Zürcher Telebibel.

Geheimnis Mensch

Predigt vom 1. September 2024; Mk 7,1-23

Die Habsburger, die ursprünglich aus der Schweiz kommen, kannten eine getrennte Bestattung. Nach dem Tod wurde der Körper vom Herz getrennt und an unterschiedlichen Orten bestattet. Man ging damals davon aus, dass im Herz das Zentrum des Menschen ist und dass im Herz der Ort der menschlichen Identität, sein Willenszentrum liegt. Ohne Herz kein Leben. Deshalb hat man früher vom Herztod gesprochen. Heute ist der Herztod keine verlässliche Todes-Indikation mehr. Wir wissen es anders. Bei Herzoperationen kann das Herz stillgelegt und durch Maschinen ersetzt werden. Später lässt man das Herz wieder arbeiten und das Leben geht weiter. Ein stillstehendes Herz bedeutet nicht mehr den sicheren Tod. Auch können Herzen transplantiert werden, ohne dass das neue Herz seine Identität in den fremden Körper mitnehmen würde. Das Herz gilt nicht mehr als das geheimnisvolle und unbekannte Zentrum des Menschen. Kardiologen und Kardiologinnen haben das Herz als Organ erforscht.

Heute gehen viele Menschen davon aus, dass das Hirn der entscheidende Ort des Menschen ist. Deshalb wurde der Hirntod zu einer Indikation für Leben und Tod. Gibt es im Hirn keine Energie mehr, dann ist der Mensch tot, so sagt diese Vorstellung. Ob dem so ist und wann der Mensch wirklich tot ist, das ist eine schwierige, medizinische und umstrittene Frage. Vor allem bei der Organtransplantation ist diese Einschätzung wichtig. Wann ist der Mensch tot und wann darf man ihm Organe entwenden. Eine knifflige Frage.

Es gibt Menschen, die lassen sich einfrieren und hoffen, eines Tages wieder aufgetaut und zum Leben erweckt zu werden. Und eben, heute gibt es Menschen, die es ähnlich machen wie die Habsburger. Sie lassen den Körper beerdigen und verwesen, aber den Kopf einfrieren und aufbewahren. Das Hirn müsste im neuen Leben reichen, um wieder ins Leben zu kommen. Da sind die wichtigen Daten eines menschlichen Lebens gespeichert, wie auf einer Computer-Festplatte. Der Körper scheint austauschbar, wie in einigen Computerspielen, wo ein Spieler, eine Spielerin mehrere Leben in unterschiedlichen Körpern leben kann. Aber das Gehirn bleibt.

Wenn Jesus im heutigen Tagesevangelium sagt, «von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken» usw., dann hat er die Vorstellung, dass das Herz den Menschen ausmacht. «All dieses Böses kommt von innen und macht den Menschen unrein». Jesus von Nazareth hat vor zwei tausend Jahren gelebt und gewirkt. Dabei hat er sich mit seinen Worten in den damaligen Vorstellungen bewegt, welche nicht mehr unsere sind. Damals war das Herz das Zentrum des Menschen.

Während dem Studium der Erziehungswissenschaften hat einer meiner Psychologie-Professoren Wert daraufgelegt, dass der Mensch auch in der Psychologie ein Geheimnis ist und bleibt. Die Psychologie gibt Hilfen für die Analyse des Menschen und kann manchmal Heilung bewirken. Aber sie belässt auch vieles offen und unbeantwortet. Was den Menschen im innersten ausmacht, das lässt sie offen, das ist und bleibt Geheimnis. Ein anderer Psychologie-Professor meinte jeweils, dass diese Frage von den Theologen und Theologinnen beantwortet werden müsste. Für uns Christen und Christinnen ist Gott ein Geheimnis – und sein Ebenbild, der Mensch ist und bleibt auch ein Geheimnis, Gottes Geheimnis.

Aber wie Jesus, kann die Psychologie einiges zu «bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifungen, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft» sagen. Doch lässt sich auch hier kritisieren: Ihr gebt die Wahrheit (Gottes Gebot) preis und haltet euch an die Theorien (Überlieferung) früherer Zeiten und vergangener psychologischer Grössen. Auch heute müssen wir uns wie vor zweitausend Jahren fragen, was trägt noch und was ist bloss Augenwischerei vergangener Zeiten. Was sind die Themen unserer Zeit?

Nicht Äusserlichkeiten sagt Jesus. Ich würde in heutiger Sprache sagen, der Mensch ist keine Maschine, sondern ein Geheimnis, das entscheidungsfähig ist, das oft zwischen gut und böse unterscheiden muss, auch wenn es manchmal Zeit braucht und Geduld, die Wahrheit und die echten Lösungen zu ergründen. Und auch heute sind wir Menschen aufgefordert rein zu sein, vielleicht in unserer Sprache gesagt, integer, vertrauens- und glaubwürdig, authentisch und wahr; konstruktiv und mit Verantwortung für unsere Nächsten wie für uns selbst.

Ab dem ersten September, heute also, rufen die Kirchen zur Schöpfungszeit auf, die bis zum vierten Oktober, dem Franziskustag, dauert. Auch heute geht es um die zwischenmenschliche Verantwortung, wie sie Jesus von Nazareth im Tagesevangelium einfordert. Doch für uns Menschen heute kommen neue Themen und Sorgen hinzu. Wir haben plötzlich eine enorme Verantwortung für die Natur, Tiere und Pflanzen, für die ganze Erde in unseren Händen. Wir haben diesbezüglich eine enorme Kraft, auch Zerstörungsmacht entwickelt. Das ergibt eine neue Verantwortungen für unser persönliches, wie für unser christliches als auch gesellschaftliches Leben.

Wir sind gefordert uns für das Leben, für die Schöpfung Gottes stark zu machen. Dabei müssen wir – wie Jesus die Pharisäer und Schriftgelehrten auffordert – stets neu ergründen, was Gottes Wille sei. Oftmals tragen alte Antworten nicht mehr. Zu dieser Suche und immer wieder neu entdecken, wünsche ich uns Fantasie, die richtigen Ideen und gute Absichten; aber auch Freude mit Gott an seinem Schöpfungswerk teilzuhaben.

Lieber keine Revolution

Predigt Mariä Himmelfahrt; 1 Kor 15,20-27a; Lk 1,39-56

Liebe Menschen, bei meinem Mitbruder Anton Rotzetter habe ich gelesen, dass man im Gebet und in der Frömmigkeit «Maria» mit «Mensch» ergänzen oder ersetzen darf. So feiern wir heute Mariä Aufnahme in den Himmel und dürfen uns mitdenken. Menschen werden in den Himmel aufgenommen – und ob Tiere, Pflanzen, ja die ganze Schöpfung im Himmel landen werden, ist theologisch zu erwarten, aber diese Fragen sollen nicht das Thema dieser Predigt sein.

Das heutige Fest sagt also etwas über uns, unserer Zukunft und unserer Hoffnung aus. Auch wir werden eines Tages bei Gott sein. Paulus formuliert dies den Korinthern folgendermassen: «Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.» Wie wir uns dieses Sterben und Auferstehen vorstellen dürfen, bleibt ein Geheimnis – und das scheint mir gut so. Es kommt wohl viel besser, als wir Menschen erahnen können.

Doch lassen wir nun die Himmels-Spekulationen. Zum Glück holt uns der Evangelist Lukas im heutigen Festtagsevangelium wieder etwas auf den Boden zurück und in die Gegenwart. Er erzählt uns von der Begegnung von zwei schwangeren Frauen. Dabei sind sie zweifach schwanger. Einerseits tragen sie verheissungsvolle Jungs in ihren Bäuchen, andererseits sind sie vom Heiligen Geist erfüllt. Was für eine hoffnungsvolle Begegnung im Bergland von Judäa!

Elisabet ruft Maria den Segen zu, nimmt wahr, dass sie beide einen ganz speziellen Moment erleben, und ehrt die jüngere Frau freudig.

Und Maria? Man könnte sie direkt bei der «letzten Generation» anmelden und mit heutigen jungen Menschen auf die Strasse schicken. Maria – nicht etwa fromm verzückt, wie man es bei Heiligenbildern oft sieht – steht mit beiden Beinen auf dem Boden und stellt im Namen Gottes die Welt auf den Kopf!

Gott «zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.» Leider müsste ich mich da wohl eher bei den enttronten und leer ausgehenden einordnen.

Wie geht es Ihnen, liebe Menschen, mit solchen Worten, mit dieser Wucht von göttlicher Macht? Als junger Mensch war ich Fan vom Magnifikat. Bei der einfachen Profess war das Magnifikat das Fest-Evangelium und meine fünf Mitnovizen und ich waren gespannt, wie der Provinzial mit solchen Umsturzgedanken umgehen wird. Nun, er hat damals sein Amt nicht niedergelegt.

Gott «stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.» Maria formuliert eine Umkehr der Verhältnisse. Kann es keine guten und menschenfreundlichen Mächtige oder Reiche geben? Schiesst da die junge begnadete Frau aus Nazareth nicht übers Ziel hinaus, wie es heute meines Erachtens auch die letzte Generation tut? Zerstörung bringt doch nicht aus sich heraus das Gute in die Welt? Revolutionen fressen ja bekanntlich auch ihre eigenen Kinder.

Müsste es nicht eher einen gerechten Ausgleich, denn einen gewaltvollen Umsturz geben. Können gewaltvolle Revolutionen die Welt verändern? Ich selbst vertraue heute auf gute und gerechte Prozesse – und da braucht es immer wieder neu Versöhnung und Vergebung im gemeinsamen Weitergehen. Darum habe ich früher das Magnifikat zum Beten oft umgeschrieben.

Und trotzdem beten wir Brüder jeden Abend im inneren Chor des Klosters: «Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.» Dies immer kurz vor dem Nachtessen. Und dann gehen wir ziemlich gut genährten und zumeist satten Menschen zum Znacht und geniessen die feinen Gaben der Schöpfung. Manchmal gedenken wir der Hungrigen und beten für sie. Noch nie bin ich hungrig vom Nachtessen gekommen.

Maria, junge prophetische Frau, wie konntest du nur so radikal sein?! Wie hast du im Alter über Revolutionen und Umstürze gedacht? Was ging dir unter dem Kreuz durch den Sinn?

Aussteigen – Sehen – Mitleid

Predigt vom 21. Juli 2024; Jer 23,1-6; Mk 6,30-34

«Als Jesus ausstieg, sah er die vielen Menschen und hatte Mitleid mit Ihnen.» Aussteigen, sehen und Mitleid haben sind die drei Verben, die Jesu Handeln im Markus-Evangelium motivieren. Und die drei passen meines Erachtens exakt zu einem Ferien-Evangelium.

1. Aussteigen, das vertraute Schiff verlassen, das können Ferien bedeuten. Ich werde frei für neue Begegnungen, für andere Menschen. Dazu muss ich einen ersten Schritt tun. Dazu können Ferien auch einladen.

2. Sehen, die Augen öffnen und wach hinsehen, was sich da zeigt und sich vielleicht auch mir in den Weg stellt. Dazu braucht es Musse und Zeit. Jesus sieht die vielen Menschen, die sich am Ufer tummeln. Er nimmt sie wahr.

3. Mitleid haben, was bedeutet das? Ehrlicherweise habe ich nach einer einprägsamen und klaren Antwort gesucht, diese aber nicht gefunden. Einerseits gibt es auch das Wort Selbstmitleid – und das ist kein positives Gefühl.

In der Theologie ist vielmehr der Begriff «Barmherzigkeit» von grosser Bedeutung. Diese wird in den Weltreligionen mit Gott selbst in Verbindung gebracht – und im Christentum kennen wir dann die sieben Werke der Barmherzigkeit.

Als neutraler Begriff ist auch noch Mitgefühl zu nennen. Man kann sich Mitfreuen, aber auch Mittrauern, je nach Situation.

Mit/Leid besteht aus zwei Worten. Das «Mit» verbinden auf gleicher Ebene. Mitleiden kann man nicht von oben herab. Bildhaft geht man in denselben Schuhen wie der andere. Das «Leid» beschreibt negativ erlebte Gefühlsqualitäten.

Aussteigen, Sehen und Mitleid haben ermöglichen Jesus eine Situation zu begreifen, zu erfühlen und dann der Situation entsprechend zu handeln. Ich erinnere mich an einen Gebetsschluss von Franz von Assisi:

«Gib mir, Gott, das rechte Empfinden und Erkennen, damit ich deinen heiligen und wahrhaften Auftrag erfülle. Amen.»

Sehen und Mitleid haben, Erkennen und Empfinden laden zum Handeln ein. Und das tut dann Jesus auch. Er nimmt die Menschen in ihren Leiden und Nöten wahr und gibt die passende Antwort. «Und Jesus lehrte die Menschen lange.» Das war Jesu Antwort auf die Not der Menschen, denen er am See begegnet ist, den Schafen ohne Hirten.

Vielleicht können wir uns heute, diesen Sommer die Frage stellen, wenn wir Ferien machen, aus unserem Trubel aussteigen und etwas Ruhe und Kraft finden, welche Menschen sehen wir und zu welchem Handeln treibt uns unser Mitleiden? Und dann entsprechend handeln.

Interessanterweise spricht man heute nicht nur von Mitmenschen, sondern auch von Mitgeschöpfen oder sogar der Mitwelt. Und auch mit Tieren beispielsweise kann man Mitleid haben. Moderne Tier-Ethiken bauen gerne auf das Mitleiden mit vierbeinigen Schwestern und Brüder auf.

Offene Augen und die Fähigkeit zu echtem Mitleid, das wünsche ich uns in dieser Ferienzeit, sowie viele weise Taten an den Ufern, die wir bereisen und besuchen. Und vielleicht immer wieder das Gebet von Franziskus auf den Lippen:

«Gib mir, Gott, das rechte Empfinden und Erkennen, damit ich deinen heiligen und wahrhaften Auftrag erfülle. Amen.»

Versaute Ferien?

Vom 16. Juli bis zum 31. Juli 2024 bin ich wieder mit der Telebibel unterwegs. Gibt es denn für Jesus und die Jünger keine Ferien? Oder vielleicht Atempausen für die Jünger, weil Jesus aus Barmherzigkeit selber übernimmt? In diesen Tagen beschäftige ich mich mit Jeremia, Brief an die Epheser, Markus-Evangelium. Hier geht es zu den Predigten.

Wiederkäuen – ein Gebet

DU
lichtvoll
lichte mich
locke mich

schenke mir
Glauben, der öffnet (für die Gottes-, Nächsten-, Selbstliebe)
Hoffnung, die trägt (in den Stürmen des Lebens und der Weltpolitik)
Liebe, die sich solidarisiert und versöhnt

lass mich spüren und erkennen
DEIN Reich am Kommen

In der mittelalterlichen Spiritualität nennt man es „ruminare“, wiederkäuen wie eine Kuh – und ein Franz von Assisi war ein Spezialist darin in seiner Kantemplation. Niklaus Kuster hat ein Gebet des Poverello übertragen und ich es in der Stille wieder und wieder verinnerlicht. Bevor ich zum Schweigen kam, entstanden obige Worte.

Habt ihr keinen Glauben?

Predigt vom 23. Juni 2024; Ijob 38.1-11; Mk 4,35-41

Liebe Gottsucher, liebe Gottsucherinnen, das Buch Ijob hat mich von Jugend an begeistert. Da gibt es eine Rahmenerzählung und eingefügt Diskussionen von Hiob mit drei Freunden sowie Gottesreden.

Rahmen, erster Teil: Gott sitzt mit seinen Söhnen im Himmel und schaut glücklich auf die Erde hinunter. Gott hat Freude am gerechten und frommen Ijob. Da meint einer seiner Söhne, Satan genannt, dass Ijob nur so gottesfürchtig sei, weil er stets Glück habe und sehr reich sei. Gott solle doch mal Ijobs Besitz und Leben antasten; Ijob Unglück und Verderben bringen. Mal sehen, was dann passiert?!

Nachdem viel Unglück über Ijob eingetroffen ist, gibt es auf Erden einen Dialog von Ijob mit seinen Freuden. Diese wollen Ijob weise machen, dass er für sein Unglück selbst verantwortlich sei. Ijob verneint vehement und beteuert seine Unschuld. Ijob bleibt bei seiner Überzeugung und hat Glück, Gott wendet sich an ihn. Heute hörten wir in der Lesung einen Teil dieser Gottesrede. Und Gottes Antwort zu Ijob ist ganz anders als erwartet:

Ijob 28.8-11: 8 Wer hat das Meer mit Toren abgesperrt, als es hervorbrach aus dem Schoß der Erde? 9 Ich wars, ich hüllte es in dichte Wolken, als Windel gab ich ihm den dunklen Nebel. 10 Ich gab ihm seine vorbestimmte Grenze, schloss es mit Tor und Riegel sicher ein. 11 Ich sagte ihm: Bis hierher und nicht weiter! Hier hört der Hochmut deiner Wellen auf!

Gott beschuldigt Ijob keiner Vergehen. Gott erklärt das Leid nicht und gibt auch keine Begründung dafür. Nein, Gott verweist auf seine Schöpfung, seine Schöpfermacht und wie er alles geordnet und begrenzt hat. Sie ist und bleibt in seinen Händen. Doch auf die Frage des «Warum» erhält Ijob keine Antwort. Gott ist dem Menschen keine Antworten schuldig, aber er versichert ihm, dass er allem gebietet und für das Leben einsteht!

Im Tagesevangelium erhalten wir eine ähnliche Antwort durch Jesu Verhalten und Handeln. Jesus liegt auf einem Kissen und schläft im heftigen Wirbelsturm. Die verzweifelten Jünger wecken Jesus.

Mk 4,39-40: 39 Jesus stand auf, sprach ein Machtwort zu dem Sturm und befahl dem tobenden See: »Schweig! Sei still!« Da legte sich der Wind und es wurde ganz still. 40 »Warum habt ihr solche Angst?«, fragte Jesus. »Habt ihr denn immer noch kein Vertrauen?«

Auch Jesus gebietet den zerstörerischen Gewalten, erklärt den Jüngern den Sturm oder die Gefahr nicht. Er zeigt ihnen, dass auch Wind und heftiger Wirbelsturm in seiner Verfügungsgewalt sind. Angstlos schläft er und vertraut dem Leben, dem Wirken und Gebieten Gottes.

Die Praxen von Psychologen sind heute überlastet. Kriege und Umweltängste belasten uns, machen Angst und fordern uns heraus. Antworten dazu gibt es von Gott her keine. So erging es auch Ijob und Jesu Jüngern. Die Gefahren sind real und werden uns nicht erspart oder weggenommen. Aber wir sind aufgefordert Gottes Wirken zu vertrauen; zu glauben, dass Gott über die Schöpfung, Menschen, gefahrvolle Mächte verfügt und alles in seinen «Händen» hält.

Gewiss sind wir auch gefordert unsere Verantwortung dem Leben, der Schöpfung gegenüber wahrzunehmen, unseren ökologischen Fussabdruck zu beachten wie auch für Gerechtigkeit und Frieden einzustehen. Im Buch Ijob hat Gott gefallen am gerechten Tun und frommen Verhalten des Ijob. Und trotzdem erhält Ijob – zumindest auf Erden – keine Antwort auf die Frage nach seinem Unglück und seiner Trauer. Sie sind Teil seiner Lebensrealität.

Obwohl wir vielleicht wie Ijob vieles richtig machen, kann es sein, das Unglück uns verfolgt und Leiden uns begleitet. Aber auch in solchen Situationen dürfen/müssen wir auf Gottes Macht und Wirken vertrauen. Gott ist auch auf Erden der Gebieter und nicht nur im Himmel. Wie schon Ijob oder die Jünger Jesu – verstehen können und müssen wir Gott nicht. Wir dürfen aber auf die Angst verzichten, auf Gott Vertrauen und an Jesu Rettung/Erlösung glauben. Habt ihr noch keinen Glauben? Nein, nicht wirklich, solcher Glauben ist schwer.

Ps: Es gibt nicht nur die Erfahrung von Leid und Unglück, es gibt auch die Erfahrung von Schönheit, unerwartetem Glück sowie von Liebe.

Aktuell: Es gibt nicht nur die Erfahrung von Überschwemmungen und Zerstörung durch Naturgewalten; es gibt auch die Erfahrung von erfrischendem Wasser, von lebenspendendem Wasser. Und es gibt das wachsende Wissen, dass wir wegen Überbauungen und einseitiger Landwirtschaft dem Wasser keine Möglichkeit geben, zu sickern und so langsam abzufliessen. Naturgewalten können vom Menschen provoziert wie auch teilweise gezähmt werden.

Ach ja, das Buch Ijob erzählt am Schluss, nach all dem erlittenen Leid, Hiob 42,10-17: 10 Der HERR wendete das Geschick Ijobs, als er für seinen Freund Fürbitte einlegte, und der HERR mehrte den Besitz Ijobs auf das Doppelte. 11 Da kamen zu ihm alle seine Brüder, alle seine Schwestern und alle seine früheren Bekannten und speisten mit ihm in seinem Haus. Sie bezeigten ihm ihr Mitleid und trösteten ihn wegen all des Unglücks, das der HERR über ihn gebracht hatte. Ein jeder schenkte ihm eine Kesita und einen goldenen Ring. 12 Der HERR aber segnete die spätere Lebenszeit Ijobs mehr als seine frühere. Er besaß vierzehntausend Schafe, sechstausend Kamele, tausend Joch Rinder und tausend Eselinnen. 13 Auch bekam er sieben Söhne und drei Töchter. 14 Die erste nannte er Jemima, Turteltaube, die zweite Kezia, Zimtblüte, und die dritte Keren-Happuch, Schminkhörnchen. 15 Man fand im ganzen Land keine schöneren Frauen als die Töchter Ijobs. Ihr Vater gab ihnen Erbbesitz unter ihren Brüdern. 16 Ijob lebte danach noch hundertvierzig Jahre und er sah seine Kinder und Kindeskinder, vier Generationen. 17 Dann starb Ijob, hochbetagt und satt an Lebenstagen.

Nähe zu Gott

ITE 2024/2; Einleitungsartikel: Es gibt heilige Berge …, aber auch heilige Schluchten und Höhlen. Und je nach Lebenserfahrung und -situation fühlt ein Mensch hier oder dort die Nähe zu Gott, zum Absoluten, zur Macht, zum Geheimnis des Lebens, usw. Davon erzählen religiöse Geschichten und Theologen. Humanistische Psychologen erforschen «Gipfelerfahrungen» (peak experiences) und stellen fest, dass vor allem junge Erwachsene davon geprägt werden, aber nicht nur.

«Auf der Alp fühle ich eine ganz besondere Nähe zu Gott», formuliert eine Mitfeiernde an einem Alpgottesdienst. Dabei ist es ihr wichtig, den anstrengenden Weg unter die Füsse genommen, geschwitzt und gekeucht zu haben. Erst so kann sie bei Gott richtig ankommen. Und dann die Weite, die Natur, die Stimmung, … «Oft fehlt mir die Sprache, aber mein Herz singt.»

Berge mit vielen Gesichtern

Ein anderer Gottesdienstteilnehmer erzählt, dass er regelmässig in die Berge beten, vor allem danken gehe. Als Jugendlicher sei er allein mit einem Stück Brot, einer Cervelat und einer Flasche Wasser in die Berge gegangen und habe nach Gott gesucht, geschrien. Fast verzweifelt sei er über Felsen gestiegen und habe sich auch verstiegen. Neue Wege gesucht. Oben auf dem Grat sei er einer Herde Schafe begegnet. Die Hirtenhunde seien knurrend vor die Schafe gestanden und so habe er gefährlich um die Herde herumklettern müssen. Angst und Verzweiflung waren mit ihm – und eine immense Sehnsucht.

Ganz verdattert habe er später sein Brot gegessen und realisiert, dass er keine Streichhölzer fürs Anfeuern dabei hatte. Und eine Cervelat sollte doch gebrätelt werden – das wäre schön. So habe er sich in schlechter Laune an den Abstieg gemacht und fand unerwartet zu einer verlassenen Feuerstelle, die noch leicht glimmte. Kein Mensch weit und breit. Sorgfältig befreite er die Glut, bliess sachte, konnte mit viel Geschick wieder ein Feuer entfachen, die Cervelat grillen, geniessen, Gott loben. Welch ein Fest! Und da erwachte in ihm die innere Gewissheit, Gott ist mit ihm, auch wo es im Leben rau, feindlich und herausfordernd werden kann. Diese Erfahrung begleitet ihn bis ins Alter – und immer wieder geht er in die Berge und dankt Gott für diese Lebens- und Seins-Gewissheit.

Visionen-Suche

Die halbsesshaften Pawnee-Indianer in Nordamerika betrieben Feldbau entlang der Prärie und ergänzten ihre Küche durch saisonale Jagd. Vor allem der Bison wurde gejagt. Wichtig war es diesen Indianern, zum Herzen der Erde zu finden. Heranwachsende Menschen gingen auf Visionen-Suche. Sie lebten allein in der Natur, bis ein Traumgesicht oder eine spezielle Naturerfahrung ihnen Antworten und Gewissheiten schenkte. Ein Lied erzählt vom «Herzen der Erde finden»:

Erst wenn ein Mensch viele Flüsse durchwatet, zahlreiche Berge bestiegen, ungezählte Nächte allein unter den Sternen geschlafen, sich von Kräutern, Samen und Wurzeln ernährt und bei Mondlicht im Fluss gebadet hat, kann er ans Herz der Erde finden und dort ruhen.

Dort werden ihm die inneren Augen aufgehen: Visionen und Träume zeigen ihm die Anhöhe, von der er den Morgenstern singen hören kann. Es ist das sanfte Lied eines Sterns, dessen Kraft so feinfühlig ist für die Harmonie der Welt wie ein Spinnennetz für den Wind.

Diversität in der Begegnung

Franz von Assisi zog sich bei seiner Gottsuche oft in Wälder, in Höhlen, auf Hügel zurück. Und da flehte er Gott um Nähe, Erleuchtung und Weisung an. Er fand immer wieder Antworten auf seine Lebensfragen und auf seine Gottsuche. Mit der Zeit wurde aus dem Waldsuchenden ein wandernder Nachfolger Jesu. Bruder Klaus scheint den Weg konträr gegangen zu sein. Bei seiner Gottsuche machte Klaus sich zuerst auf Wanderschaft und zog sich erst nach prägenden Erfahrungen in den Ranft zurück, um da in der Gegenwart Gottes zu verweilen.

Auch heutige Zeitgenossen verweilen gerne im Wald oder in den Bergen, um da zuerst einmal Kraft und Energie für ihr Leben zu schöpfen. Und manchmal finden sie dort ihre Nähe zu Gott, eine Lebensgewissheit, die trägt, Mut macht und Freude bereitet. Und manchmal ist es einfach eine tiefe Ahnung oder ein tragendes Vertrauen ins Leben. Oft fehlen dabei die Worte, um solche Erfahrungen zu benennen und wirklich zu verstehen. Auch sind die Erzählungen vielfältig und so unterschiedlich, wie die Menschen selber sind.

Gipfelerlebnisse

Der US-amerikanische Psychologe Abraham H. Maslow führte den Begriff «Peak Experiences» in die humanistische Psychologie ein. Seine Untersuchungen zeigen, dass die meisten (oder gar alle?) Menschen Gipfelerlebnisse in ihrem Leben machen: Momente tiefer Verbundenheit, von unbedingter Zugehörigkeit, der Aufhebung allen Getrenntseins, des Einsseins mit der Welt, tiefsten Glücks. Diese Erfahrungen sind vielfältig wie die Menschen, die sie erleben. Sie können therapeutisch wirksam werden, den freien Willen und Selbstbestimmtheit fördern.

Von Maslow ist vor allem die Bedürfnispyramide bekannt:
1. Psychologische Bedürfnisse
2. Sicherheitsbedürfnisse
3. Soziale Bedürfnisse
4. Individualbedürfnisse
5. Selbstverwirklichung.

Die oben thematisierten Gipfelerlebnisse können unter Selbstverwirklichung (Stufe 5) eingeordnet werden. Diese Stufe 5 hat im Verlauf der Jahre unterschiedliche Bezeichnungen erhalten: In seiner späteren Forschung assoziierte Abraham H. Maslow die Stufe mit dem Bedürfnis nach Selbstüberschreitung, nach Transzendenz.

Psychologische Erforschung

Ich möchte aus einem Vortrag von ihm (Vgl. Doubraw 2021) zitieren: «Als ich die Psychologie der Gesundheit zu erforschen begann, nahm ich die besten, gesündesten Menschen, die besten Exemplare der Menschheit, die ich finden konnte, und studierte sie, um zu sehen, was sie auszeichne. Sie waren sehr anders, in gewisser Weise verwirrend anders als der Durchschnitt.» Maslow fand heraus, «dass diese Menschen dazu tendierten, von mystischen Erfahrungen zu berichten, von Augenblicken grosser Ehrfurcht, Augenblicken des intensivsten Glücks oder sogar der Verzückung, Ekstase oder Glückseligkeit». Und weiter: «Diese Augenblicke waren das reine, das positive Glück. Alle Zweifel, alle Ängste, alle Hemmungen, alle Spannungen, alle Schwächen wurden zurückgelassen.»

«Gipfelerlebnisse können als wahrhaft religiöse Erfahrungen im … universellsten und humanistischsten Sinne des Wortes gelten.»

Maslow war überzeugt: «Sie (Gipfelerlebnisse – Red.) können wissenschaftlich untersucht werden. (Ich habe begonnen, dies zu tun.) Sie befinden sich innerhalb der Reichweite des menschlichen Wissens, sind keine ewigen Geheimnisse. Sie befinden sich in der Welt, nicht ausserhalb der Welt. Nicht bloss Priester machen sie, sondern die ganze Menschheit.» … «Gipfelerlebnisse können als wahrhaft religiöse Erfahrungen im besten und tiefsten, universellsten und humanistischsten Sinne des Wortes gelten.»

Oft unbewusste Erfahrung

Die nächste grosse Lektion, die Maslow gelernt hatte, war, «dass Gipfelerlebnisse weitaus häufiger vorkommen, als ich jemals erwartet hatte: Sie waren nicht auf gesunde Menschen beschränkt. Diese Gipfelerlebnisse hatten auch durchschnittliche und sogar psychisch kranke Menschen. In der Tat vermute ich jetzt, dass sie bei praktisch allen auftreten, allerdings unerkannt oder nicht als das genommen, was sie sind».

Der Psychologie war überrascht: «Praktisch jeder berichtet von Gipfelerlebnissen, wenn er auf sie angesprochen und befragt und in der richtigen Weise ermutigt wird.» … «Gipfelerlebnisse sprudeln aus vielen, vielen Quellen und jede Art Mensch kann sie haben. Meine Liste von Quellen wird immer länger, je mehr ich mich mit diesen Forschungen beschäftige.»

Literaturangabe: Erhard Doubraw (Hrsg.), Verbunden trotz Abstand, Von Gipfelerlebnissen und mystischen Erfahrungen. Beiträge von Abraham H. Maslow und David Steindl-Rast, Books on Demand, 2021.

In anderen Sprachen sprechen

Pfingstpredigt; Apg 2,1-11; Joh 15,26-27; Joh 16,12-15

Liebe Zeugen und Zeuginnen, Schwyzer und Schwyzerinnen sowie Menschen von vielen Orten; herzlich willkommen zum heutigen Pfingst-Gottesdienst. Lassen wir uns begeistern, mitreissen und Gott preisen. Seine grosse Taten dürfen wir verkünden – so ermuntert uns die Apostelgeschichte.

«Und es erschienen ihnen Zungen, wie von Feuer, die sich verteilten, / auf jede und jeden von ihnen liess sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.»

Welch eine Wucht von Text, von Geschehen, von Erfahrung, die uns hier geschildert und verkündet wird. Aber auch überraschend, finde ich. Denn

  1. Alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt! Nicht nur die Apostel, oder nur die Juden oder nur eine bestimmte auserwählte Gruppe. Nein, alle. Auch du und ich.
  2. Und dann: Sie begannen in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. Jeder und jede springt über seinen eigenen kulturellen Schatten und öffnet sich für den anderen, den Fremden, den Unbekannten. Nicht der Fremde, die Fremde muss sich mir anpassen. Ich spreche seine Sprache und öffne mich für ihn, für sie – in anderen Sprachen reden.

Lieber Gläubige, liebe Gläubige, überfordert uns hier die Apostel-Geschichte? Gerne wird gesagt, dass die Apostelgeschichte Ideale schildert, wie sie auch vor zweitausend Jahren nicht zu finden waren. Vielleicht würden wir bei der Apostelgeschichte besser von Visionen sprechen, wie sie uns vom Heiligen Geist her geweckt werden?

Ich erinnere mich an den Hinweis von Walter Ludin in der Predigt an Christi Himmelfahrt. Im Vaterunser beten wir «dein Reich komme» und meinen hoffentlich auch, was wir beten. Das Reich Gottes kommt zu uns auf Erden und meint nicht einen fernen, ja sogar himmlischen Zustand andernorts; «dein Reich komme». Auch an Pfingsten kommt der Heilige Geist zu den Menschen – und zwar im Hier und Jetzt, nicht im Irgendwo.

Pfingsten war das erklärte Lieblingsfest von Johannes XXIII. Der Papst verband mit dem Pfingstereignis die Hoffnung auf eine heilsame Erneuerung der Kirche. Ich verbinde mit Pfingsten zusätzlich eine gerechte Befriedung und Erneuerung der Welt – denn auch da muss und darf einiges heilsamer und lebenswerter werden. Die Vision der Apostelgeschichte: Alle werden vom Heiligen Geist erfüllt. Alle verstehen sich und sprechen fremde Sprachen. Menschen unterschiedlicher Kulturen, Sprachen, und vermutlich auch unterschiedlicher Religionen verstehen sich.

Im Johannesevangelium spricht Jesus vom Beistand und vom Geist der Wahrheit, der uns gesendet wird. Und was mich überrascht: «Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es nicht tragen». Wie sage ich es meinem Kinde, tönt da an. Ja vielmehr noch Wann sage ich es meinem Kinde! Gott wirkt in der Geschichte. Wir sind wie erwachsene Kinder mit ihm auf dem Weg und lernen stets Neues und Überraschendes hinzu.

Gott gestaltet Heilsgeschichte. Diese basiert auf der Vergangenheit und ist stets auf Zukunft, Entwicklung, hoffentlich auf heilsame und heilige Verbesserung angelegt. An Pfingsten werde ich daran erinnert, dass wir Menschen nicht allein auf diesem Weg, in diesem Entwicklungsprozess sind. Gott, der Geist Gottes ist mit uns, begleitet und leitet uns. Nach Pfingsten sind wir bereit, die Welt und die Schöpfung so zu gestalten, dass Leben für alle und die ganze Schöpfung möglich ist.

Der Heilige Geist wird uns in der Wahrheit leiten und erziehen, dass „Dein Wille geschehe“ und wir aufrichtig beten können: «Dein Reich komme». Und auf diesem Geist-begleiteten Weg, in diesem unserem Leben wünsche ich uns immer wieder neu Geist-erfüllte Erfahrungen des Miteinanders von Menschen wie auch von Gott mit uns Menschen.

Wenn ich die Apostelgeschichte und das Bild der fremden Sprachen ernst nehme, dann geht es nicht um eine Einheits-Sprache, ein Gleichwerden aller Menschen, sondern: «Alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab». Vielfalt und Diversität höre ich in diesen Worten. Nicht nur in der Natur, sondern auch unter uns Menschen: Vielfalt und Diversität. Und so möchte ich wie folgt beten: «Dein Heiliger Geist lasse sich auf jeden und jede von uns nieder; dein Reich komme, dein Wille geschehe wie an Pfingsten so auch alle Zeit.» Amen.