Welch eine Zeit

Predigt vom 10. Dezember 2023; Mk 1,1-8; 2 Petr 3,8-14

Am Mittwoch, 6. Dezember, war ich als Schmutzli unterwegs. Dabei wurde mir bewusst, dass Kinder heute in einer anderen Welt leben als ich. Gelobt wurden die meisten Kinder wegen ihrer Kreativität und Fähigkeit bei Problemen Lösungen zu finden. Im Tadel wurden sie oft zur Selbstständigkeit ermahnt: Ankleiden, Zähne putzen, Instrumente üben. Der Gehorsam Eltern oder Autoritäten gegenüber kam nicht vor. Das hatte ich vor dreissig Jahren als Samichlaus noch anders erlebt!

Letzten Sonntag war die Sternstunde Philosophie des Schweiz Fernsehens mit der Physikerin Sabine Hossenfelder. Sie hat die wunderbare Gabe komplexe Zusammenhänge sehr verständlich zu erklären und zu veranschaulichen. Sie hat deutlich gemacht, dass seit Einstein «Zeit» für Physiker nicht mehr linear, geradlinig ist und dass es für Physikerinnen keine Gegenwart gibt. Was wir im Alltag als Gegenwart verstehen ist für Physiker schon Vergangenheit. Und im Blick in den wunderbaren Sternenhimmel sehen wir teilweise das Licht von Sternen, die schon längst erloschen sind.

Nun, nicht nur für Wissenschafterinnen, sondern auch für Glaubende ist die «Zeit» ein spannendes Phänomen und hat unterschiedliche Aspekte. Dies wird im Advent besonders deutlich. Die griechische Sprache kennt drei Begriffe für «Zeit». «Chronos» ist die Zeit, wie wir sie auf unseren Uhren sehen. Es ist die Zeit, die Sekunden, Minuten und Stunden aneinanderreiht. Sie wird gezählt und gemessen. Der Begriff «Äon» bezeichnet eine «Lebenszeit» oder auch ein «Zeitalter» sowie die «Ewigkeit». Das Chlausen letzten Mittwoch hatte mit der Erfahrung eines solchen kreativen, selbstständigen und lösungsorientierten Zeitalter zu tun.

Die griechische Sprache kennt auch den Begriff «Kairos», der für Glaubende von grosser Bedeutung ist. «Kairos» meint einen geeigneten oder günstigen Zeitpunkt für eine Handlung, auch einen Gottesmoment. Die kurzen und dunklen Tage des Advents sind geeignet für die Wirkung von Kerzen. Darum Adventskränze und Weihnachtsbäume. Auch Fondue, Raclette und Glühwein sind geeignet für kalte Tage. Für uns Christinnen und Christen hat der «Kairos» vor allem mit Gottes wirken in unserem Leben und unserer Geschichte zu tun.

Der 2. Petrusbrief kennt für Gott ein eigenes Zeitempfinden. Beim ihm sind «ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag» (3,8). Es sind dies Realitäten und Erfahrungswerte, die für uns Menschen weder verständlich noch nachvollziehbar sind. Gott-Zeit ist nicht menschenlogisch oder Menschenerfahrung. Interessanterweise verbindet der Autor des 2. Petrus-Briefes diese Gott-Zeit mit Geduld. Gott ist geduldig mit uns Menschen, «weil er nicht will, dass jemand zugrunde geht, …» (3,9). Wie gerne hätte ich, wenn Gott heute eingreifen würde und Kriege und Konflikte beheben sowie Gerechtigkeit und Frieden schaffen würde. Doch Gott ist geduldig. Er gibt uns Menschen Zeit zur Umkehr, zur Versöhnung untereinander, mit der Welt und mit Gott. Welch ein Gedanke!

Das meint jedoch nicht, dass Gott untätig und weltfremd ist. Der 2. Petrusbrief verspricht uns «einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt» (3,13). Auch einen neuen Himmel! Im heutigen Tagesevangelium macht der Evangelist Markus deutlich, dass Gott immer wieder für uns Menschen Initiative ergreift und Menschen beruft. So zum Beispiel Johannes der Täufer in der Wüste, der den Menschen Umkehr und Taufe verkündigt. Der Asket bleibt nicht allein. Menschen kommen zu ihm und lassen sich taufen.

Johannes gehört zum «Kairos Gottes», der die Erde, die Menschen ihrer Bestimmung zuführen will. Er ist auch Ausdruck von Gottes Geduld mit uns Menschen. Gott hat Zeit und lässt uns umkehren, neu und anders werden. Johannes der Täufer verweist auf einen noch wichtigeren Kairos Gottes: «Ich habe euch nur mit Wasser getauft, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen» (Mk 1,8). Welch eine Verheissung, welch eine Geduld, Zuwendung Gottes! Und so können auch wir im Advent diese Geduld lernen und üben. Der neue Himmel und die neue Erde werden kommen und immer wieder gibt es spezielle Menschen und Momente im Weg dorthin. Und wenn wir achtsam sind, dann dürfen auch wir immer wieder solche Momente erleben und neu werden.

Vor zwei Wochen genoss ich Wanderferien vom Kloster Olten aus. Ich musste schnell packen und dachte wegen dem angekündigten Regen gar nicht an kalte Ohren und eine Mütze, nur an Schirme – und das in Mehrzahl. Als wir am ersten Tag fürs Wandern aufbrachen und auf den Bus warteten merkte ich schnell, was ich vergessen hatte, eine Mütze. Dumm dachte ich bei mir und versuchte mich nicht über mich zu ärgern. Denn es war kalt, eiskalt. Als dann der Bus vorfuhr und wir uns setzen wollten, lag da auf dem Sitz eine einsame Kappe. Zuerst zögerte ich, doch dann nahm ich sie als ein Zeichen Gottes, und zog die Kappe an, welche mir in den folgenden Tagen warme Ohren ermöglichte. Auch ein Zeichen an mich?

Ich weiss, man sollte solche Situationen nicht überinterpretieren, doch sah und sehe ich darin ein Zeichen der Zuwendung Gottes, das mir warme Ohren ermöglichte. Es war dies ein Gottesmoment, ein Kairos in meinem Kronos. Ja, ich mag umkehren zu Gott, wie Johannes der Täufer predigte und vertraue auf den neuen Himmel und die neue Erde, wie es der 2 Petrusbrief verheisst. Welch eine Zeit, welch ein Kairos heute. Daran erinnert mich dieses Jahr der Advent ganz besonders.

Wenn Angst nicht weiterhilft

Predigt vom 19. November; Mt 25,14-30

Vor gut zwei Monaten war die Medienkonferenz zur Voruntersuchung der Missbrauchsstudie. Die Medien waren vor und nach dem 12. September beschäftigt, neueste Erkenntnisse und Resultate zu kommunizieren. Es war für mich keine einfache Zeit und ich musste vieles hinnehmen und verdauen. Eine Zeitlang habe ich mich geschützt. Es braucht Zeit, Achtsamkeit und Geduld solche Meldungen zu verdauen. Traurig, schrecklich! Überrascht war ich, dass Vieles aktuell ist und auch die heutigen Bischöfe betrifft. Es geht nicht nur um alte Geschichten des letzten Jahrtausends. Das war mir neu.

Das Schlussdokument konnte ich in den ersten Tagen nicht lesen. Es wäre zu viel gewesen. Nach einigen Tagen habe ich mir dieses jedoch zu Gemüte geführt und ich war erstaunt, dass es mich nicht primär belastete, sondern mir auch Mut machte und Lösungswege aufzeigte. Einiges ist schon gelaufen, weiteres muss noch kommen. Da wartet noch viel! Trotzdem, das Denken an die Opfer macht betroffen und fordert kirchliches Handeln. Unsere Kirche ist leider keine Idealgesellschaft und auch die Kapuziner nicht, das sehe ich deutlich, tut weh.

Dieses Jahr durfte ich mit Karin Iten und Stefan Loppacher zwei Weiterbildungen für Kirchenräte der Landeskirche Schwyz organisieren. Sie zeigten auf, dass vieles in der Kirche im grünen Bereich liegt, einiges im grauen und weniges im roten Bereich; solches das nicht geht und Verbrechen sind. Und trotzdem bleiben wir als Kirche eingeladen eine gute Nachricht zu verkünden. Dazu braucht es Nähe und Distanz. Karin Iten erzählte von einer Predigt während einem Gottesdienst. Da war ein Prediger, der nie zu den Menschen aufgeschaut hat und keinen Kontakt zu den Trauernden aufbauen konnte. Das ist eine nichtgelungene Begegnung! Es braucht unbedingt einen Augenkontakt.

Vorletzte Woche hatten wir hier im Kloster eine Weiterbildung zu «Nähe und Distanz». Auch hier meinte der Referent «Angst und Vermeidung sind nicht die Lösung». Es braucht stets das richtige Mass. «Wann ist nah zu nah?» war eine Frage. Und in einem Haus mit Pflegestation stellt sich diese Frage besonders. 0-45 cm ist die intime Distanz. Diese braucht es bei der Körperpflege, muss aber vom Patienten angenommen werden und von Pflegenden stets angekündigt werden. Ab 45 cm bis 1 Meter 20 cm ist die persönliche Distanz; bis 3 Meter 60 die soziale Distanz und bis 7 Meter 50 die öffentliche Distanz. In Begegnungen braucht es definierte Rollen, Sorgfalt und Transparenz. Das richtige Mass.

Dankbar bin ich für unser heutiges Tages-Evangelium (Mt 25,14-30). Der dritte Diener handelt nicht mit seinen Talenten, Gaben, Fähigkeiten. Er vergräbt diese aus Angst und lässt sie brach liegen. Der Herr des Gleichnisses will jedoch, dass seine Diener mit ihren Talenten handeln. Nicht Angst und Vermeidung sind gefordert, sondern Lebendigkeit, Freude, ja sogar Risiko im Umgang mit eigenen Talenten und Fähigkeiten. Angst hilft hier nicht weiter. Sie führt ins Verderben.

Sören Kierkegaard unterscheidet zwischen Furcht und Angst. Bei Furcht wissen wir, wovor wir Angst haben. Wenn ich vor einem Löwen stehe, dann ist Furcht und die Flucht das gute Verhalten. Angst ist für den Philosophen und Theologen diffus, nicht greifbar und lebensbehindernd. Interessanterweise sprechen wir von Gottesfurcht und nicht von Gottesangst! Obwohl wir als Christen und Christinnen auf einen liebenden Gott bauen. Unsere Gottesfurcht nimmt ernst, dass Gott grösser, anders, unbegreifbar ist. Ein uns verborgenes Geheimnis also.

Der Neurologe und Psychotherapeut Erwin Ringel differenziert anders. Er nennt vier Typen von Angst. Reale, existenzielle, irreale und neurotische Angst. Irreale und neurotische Angst sind krankhaft und behindern das Leben. Die reale Angst deckt das Beispiel mit dem Löwen ab. Reale Angst kann überlebenswichtig sein und nötig. Die existenzielle Angst macht deutlich, dass unser Leben komplexer und vielfältiger ist, als uns lieb ist. Wir fühlen uns überfordert und kommen an unsere Grenzen. Wir bekommen Angst. Existenzielle Angst zeigt uns, wenn wir unser Leben auf Sand gebaut haben. Doch auch sie darf unser Leben nicht behindern. Talente müssen gelebt, gefördert und vermehrt werden.

Jesu Gleichnis zeigt, dass der Herr seinen Dienern eine gewisse Anzahl Talente gibt. Und diese muss der Diener einsetzen und fruchtbar machen. Es wird nichts Übermenschliches oder sogar Unmenschliches gefordert. Sondern mit unseren Gaben sollen wir handeln und die Welt gestalten und lebenswert erhalten. Diese Talente zu vergraben ist keine Lösung und führt nicht ans Ziel.

Dies Ziel unseres Lebens zeigt sich im Satz: «Komm, nimm Teil an der Freude deines Herrn!» Und dazu braucht es Lebendigkeit, Freude an den eigenen Fähigkeiten, aber manchmal auch den Mut zum Risiko. Angst kann weder für ein Individuum noch für eine Kirche die Antwort sein. Wir haben einen Auftrag vom Gott des Lebens und der Liebe. Und dieser fordert uns zum Leben und Lieben heraus. Dazu wünsche ich uns, aber auch der Kirche, viel Mut, lebensfreundliche Strukturen und einen kritischen Umgang mit unserer Vergangenheit, damit gutes Leben möglich wird.

Einladung abgelehnt

Predigt vom 15. Oktober 2023: Jes 25,6-10a; Mt 22,1-14

Welch eine Wucht, mit der Jesaja hier auffährt: «für alle Völker ein Festmahl … der Tod wird beseitigt … An jenem Tag wird man sagen: Seht das ist unser Gott, auf ihn haben wir unsere Hoffnung gesetzt, er wird uns retten»! (Jes 25,6-10a) Solche Worte mag ich sehr und solche Hoffnung wünsche ich mir, Tag für Tag. Es ist dies eine Vision für die Zukunft und ich wünschte, sie würde heute werden. Komm Gott, rette uns!

Und was mir hier zusätzlich auffällt. Gott handelt und nicht ich. Gott ist die Hoffnung, nicht ich oder andere Heilsbringer. Es ist der eine Gott, der für alle Völker einsteht, und so für alle Völker. Nein, nicht ich muss der Welt das Heil bringen. Das darf ich im Glauben getrost Gott überlassen. Er übernimmt die Vollendung der Welt, wie auch jedes einzelnen von uns. Und da meint Jesaja nur noch: «Wir wollen jubeln und uns freuen über seine rettende Tat.»

Auch das Jesus-Gleichnis nimmt das Bild des Mahles auf und führt den Text des Jesaja weiter und situiert diesen geschickt in unserem Alltag, nicht in die Zukunft, wie dies Jesaja tut. Das Mahl ist im Gleichnis bereitet und die Gäste werden eingeladen. Doch welch eine Enttäuschung für den Einladenden!

Die Geladenen «kümmerten sich nicht darum, der eine ging auf seinen Acker, der andere in seinen Laden, wieder andere fielen über seine Diener her, misshandelten sie und brachten sie um.» (Mt 22,5-6) Ja, mein Alltag ist voll und der Aufgaben und Pflichten viele. Manchmal frage ich mich auch, ob es auch die Gewohnheiten sind, die den Tag ausfüllen und mir so den Blick auf das Heilige, auf Gottes schöpferische Wirken verstellen. Es muss doch so und so sein. Das müsste auch noch erledigt werden. Nein, Menschen haben darin oft keinen Platz mehr. Lade ich mich manchmal nicht selbst vom Fest des Lebens aus? Lasse ich Gott und seinen heiligen, belebenden Geist an mir vorbeiziehen?

Mit der Kurzfassung vom Evangelium könnten wir hier hören und hätten meines Erachtens schon vieles für unseren Alltag mitbekommen. Hoffnung auf Gottes Retten, und Aufmerksamkeit für Gottes Wirken im Alltag wären die beiden Punkte, die wir für die kommende Woche mitnehmen könnten: Hoffnung auf Gottes Retten und Aufmerksamkeit für Gottes Wirken.

Die Verse 11 bis 14 bei Matthäus 10 haben mich zuerst geärgert und so wollte ich diese weglassen. Der Vers 10 hat ja schon ein wunderbares Happy-End:

«Die Diener gingen auf die Strasse hinaus und holten alle zusammen, die sie trafen, Böse und Gute, und der Festsaal füllte sich mit Gästen.» Jetzt könnte das Gelage von Jesaja doch beginnen?!

Wieso nun noch eine Negativschlaufe im heutigen Tagesevangelium? «Mein Freund, wie konntest du hier ohne Hochzeitsgewand erscheinen?» Warum muss nun das harmonische Mahl noch gestört werden. Auch für die Zurückbleibenden bleibt doch ein schaler Geschmack zurück. Da gibt es am Ende einen Ausgeschlossen, einen Hinausgeworfenen!

Stichwort für den Rauswurf ist das Hochzeitsgewand. Gäste sollen an die Feier nicht kommen wie im Alltag. Sie sollen wissen und ausdrücken, dass da etwas Spezielles, Heiliges geschieht. Im ersten Teil des Gleichnisses haben wir gesehen, dass die Geladenen nicht ans Mahl gehen, weil die täglichen Aufgaben und Sorgen des Alltages vom gemeinsamen Mahl ablenken. Vielleicht nimmt die zwei Rauswurf-Schlaufe dieses Thema auf und verdeutlicht. Gottes Begegnung reisst aus dem Alltag heraus und führt in eine spezielle, heilige, transzendente Begegnung mit IHM. Da wird und ist alles anders. Da ist eben nicht mehr nur Alltag. Da wird der Alltag überstiegen, transzendiert.

Mir kommen eigene erhebende Gottesbegegnungen, Gipfelergebnisse in den Sinn und auch mystische Erfahrungen. Da muss man sich herausreissen lassen und andere Werte, Gottes überraschende Gegenwart zulassen. Da gilt die Liebe, Harmonie, Versöhnung, Gottes erfahrbare Wirklichkeit. Franz von Assisi hat das in der Begegnung mit Aussätzigen erlebt, andere Heilige im Gebet, in der Meditation oder in der Liturgie. Wenn ich an viele Kapuziner-Heilige denke, dann sind das Erfahrungen an der Pforte, beim Betteln oder auch im Beichtstuhl. Im Tun des Guten wird das Bittere süss, würde Franziskus sagen.

Lassen wir uns von Gott einladen zu seinem Mahl und ziehen wir dazu unsere Hochzeitskleider an. Geniessen wir die göttlichen «Mähler». Und es wird dies nicht nur eine persönliche Erfahrung sein. Jesaja verheisst uns am Ende eine umfassende, erlösende und offenlegende Erfahrung für alle:

«6 Auf diesem Berg aber wird der HERR der Heerscharen allen Völkern ein fettes Mahl zubereiten, ein Mahl mit alten Weinen, mit fettem Mark, mit alten, geläuterten Weinen. 7 Und verschlingen wird er auf diesem Berg die Hülle, die Hülle über allen Völkern, und die Decke, die über alle Nationen gedeckt ist.»

Und Jesus zeigt uns, dass das Reich Gottes schon in unserem konkreten Leben Einzug halten will. Ziehen wir also unsere Hochzeitskleider an. Lasst uns einladen und Zeit haben für Menschen, Gott und sein Wirken. Und da darf dann auch gefeiert werden. Immer wieder und am Ende der Tage. Amen!

Petrus, du bist mir sympathisch

Predigt vom 3. September 2023; Mt. 16,21-27; Nachfolge meint im Heiligen Geist „dein Wille geschehe“ tun und ist dynamisch. Da gibt es keine schnellen und leichten Antworten.

Erfolg und Niederlage können nahe beieinander liegen – und das selbst bei Reaktionen von Jesus von Nazareth. Letzten Sonntag hörten wir im Tagesevangelium Jesus dem Petrus sagen: «Selig bist du, Simon Barjona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Ich aber sage dir: Du bist Petrus – der Fels –, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirchen bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.» (Mt 16,17-18) Für Petrus also einen Gross-Erfolg!

Heute hören wir denselben Jesus von Nazareth dem Petrus sagen: «Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir» (Mt 16,23) Und das im Matthäus-Evangelium nur wenige Verse später als das Lob. Jesus scheint ein echt emotionaler und gerader Mensch gewesen zu sein. So nahe liegen der Erfolg und die Zurückweisung des Petrus beieinander. Es scheint mir eine Erfahrung von emotionalen, glaubenden und mutigen Menschen zu sein. Hätte Petrus den Mund gehalten, so hätte er weder das Eine noch das Andere erlebt. Doch Petrus geht mit und bringt sich ein und ist engagiert. Und da fällt man manchmal auf die Nase. Das geht auch mir manchmal so.

Aber was ist dem Petrus im heutigen Evangelium zum Verhängnis geworden? Seine Angst? Sein Sicherheitsbedürfnis? Vielleicht auch seine falschen theologischen Vorstellungen? Die Vorstellung nämlich, dass das Leben das Höchste sei und in jeder Situation zu schützen sei. Dem ist nicht so.

Lassen Sie mich eine Begegnung der letzten Tage erzählen. Ein Kollege erzählte mir, von einer Pflegesituation. Eine über neunzigjährige Frau lebt im Altersheim, leidet und hat genug vom Leben. Sie ist lebenssatt – wie es so schön im Alten Testament heisst – sie will nur noch sterben. Exit kommt für sie nicht in Betracht. Sie beschliesst ab sofort nicht mehr zu essen und zu trinken. Es ist dies eine Methode, die in Heimen bekannt ist und den Sterbenden wenig Schmerzen bereitet. Doch nun kommen Ihre Verwandten auf den Plan und sagen, dass dies unchristlich sei und die Frau wieder essen und trinken müsse. Vielleicht sogar künstlich ernährt. Das Leben sei unantastbar. Der Kollege ist überrascht. Was soll ein Theologe raten? Muss ein Seelsorger nicht stets für das Leben einstehen?

Da ich gerade mit dem heutigen Tages-Evangelium beschäftigt war, sagte ich ihm: «Selbst für Jesus von Nazareth war das Leben nicht der höchste Wert im Leben.» Ein zweiter Kollege meinte energisch: «Aber für den Gott des Lebens ist das Leben der höchste Wert und kein Mensch darf dieses Leben geringschätzen! Auch eine Sterbende nicht!» Mit dem Evangelist Matthäus im Hintergrund antwortete ich: «Wäre das Leben alles gewesen, dann wäre Jesus nicht ans Kreuz gegangen und hätte die Warnung von Petrus ernstgenommen. Jesus wäre nicht am Kreuz gelandet und hätte weitergelebt. Ja, Jesus hätte vielleicht wie in einen berühmten Jesusfilm noch eine Familie gegründet und lange gelebt.»

Vier fragende und empörte Augen schauten mich an. Plötzlich meinte der zweite Kollege. «Stimmt. Und all die christlichen Märtyrer. Sie gingen in den Tod und hätten nur ihrer Überzeugung, ihrem Glauben und so weiter absprechen müssen, und sie wären nicht umgekommen. Und selbst heute gibt es Menschen, die für ihren Glauben in den Tod gehen, die modernen Märtyrer. Christen gelten heute weltweit als eine der am stärksten verfolgte religiöse Gruppe weltweit. Wir sehen. Das Leben ist für Glaubende nicht absolut. Jesus von Nazareth und die Märtyrer sind ein Zeugnis davon.»

Liebe Gottesdienstbesucher:innen

Ich habe mich bei dem bekannten katholischen Ethiker Eberhard Schockenhoff versucht schlau zu machen, wie heute der Essens- und Trinkverzicht ethisch eingestuft wird. In seiner «Ethik des Lebens» habe ich nach einer einfachen Lösung für die alte sterbensmüde Frau gesucht. Leider ist die Frage sehr komplex und Ethiker interessieren sich eher dafür, wann andere die künstliche Ernährung einstellen dürfen, denn wie das nicht mehr Essen und Trinken-Wollen von Sterbenden zu beurteilen ist. Nachdem Schockenhoff die lange katholische Tradition abgehandelt hat, schreibt er:

«Auch die anderen erwähnten Autoren beziehen ihre Überlegungen zur Begrenzung der Lebenserhaltungspflicht auf ordentliche und verhältnismäßige Mittel ausdrücklich auf die Frage, ob es immer und ausnahmslos geboten ist, Nahrung und Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Ihre Antworten zeigen, dass die Pflicht zur Nahrungsaufnahme grundsätzlich nicht anders als die Pflicht zur Anwendung sonstiger Mittel der Lebensbewahrung bewertet wurde. Das bedeutet: Lebenserhaltende Maßnahmen sind grundsätzlich geboten, jedoch bedarf es im Einzelfall der Prüfung, ob sie im Blick auf ihren tatsächlichen Nutzen und die möglichen Belastungen für den Patienten verhältnismäßig sind.»

Auch katholische ethische Antworten sind nicht immer sehr einfach und wie Gesetze anwendbar. Bei der lebenssatten und leidenden Frau ist deshalb auch ihr Einzelfall zu prüfen und zu beurteilen, was verhältnismässig ist. Tatsächlichen Nutzen und mögliche Belastungen müssen geklärt werden. Entscheiden darf und muss sie wohl selber, ob sie weiterhin essen und trinken will.

Liebe Glaubende

Jesus von Nazareth hat also das im Sinn, das Gott will, und nicht was Menschen wollen. Darum wird Petrus mit seiner Sorge um Jesus energisch zurückgewiesen. Jesus will sein Kreuz auf sich nehmen, selbst wenn das Kreuz den Tod bedeutet. Er lebt in der Perspektive auf seinen Vater hin und auf die Zukunft durch den Tod hindurch. Das heisst konkret in den Tod gehen und keine faulen Kompromisse machen. Sein Leben ist nicht der höchste Wert.

Vielleicht noch eine Übersetzungsfrage zum heutigen Tagesevangelium. Früher wurde im katholischen Gottesdienst gelesen: «Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen!» In der neuen römisch-katholischen Übersetzung steht: «Tritt hintermich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, …» Das Kraftwort «Satan» bleibt. Aber Petrus soll nicht verschwinden, sondern hinter Jesus nachfolgen und dem Willen Gottes folgen, auch wenn das eines Tages seinen Tod bedeuten könnte. Eben, «dein Wille geschehe». Der Wille Gottes zählt und will mit dem Geist Gottes gelebt werden, wie Petrus diesen und letzten Sonntag gelernt hat. Amen.

Jesus herausfordern

Predigt vom 20. August 2023, Röm 11,13-15.29-32, Mt 15,21-26

«Frau … Was du willst, soll geschehen.» (Mt 15,28) haben wir im Sonntags-Evangelium gehört. Normalerweise beten wir im Vaterunser «Dein Wille geschehe». Jesu Aussage scheint mir direkt etwas verkehrte Welt zu sein. «Frau … Was du willst, soll geschehen.» Und gleichzeitig erinnere ich mich an jüdische Freunde, die während meinem Theologie-Studium ihren Glauben und vor allem ihre Gebete mit mir geteilt haben. Da begegnete ich einer Sprache, die mit Gott ringt. Nicht christlich fromm, brav und zahm. Und in den Psalmen begegne ich im Tagzeitengebet mit den Brüdern immer wieder solchem Ringen mit Gott. Die Psalmisten kennen keine Sprache einer christlich, kindlichen, gottergebenen Frömmigkeit.

Vielleicht will Gott, dass wir über unseren Schatten springen und mit ihm ringen, unsere Anliegen zur Sprache bringen. Ich denke an Jakob am Jabbok im Buch Genesis (32,25): «Als er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg.» Oder auch an die Offenbarung des Johannes (3,16): «Daher, weil du lau bist, weder heiss noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien.» Es gab Zeiten, da war mir die Geschichte mit Jakobs Ringen am Jabbok sehr wichtig und hat meinen Glauben genährt. Doch heute bitte lieber ruhig und nicht so anspruchsvoll. Selbst das Kreuz, ein lebloses Symbol, holt mich nicht aus den Socken; vor allem wenn ich dahinter immer schon den Auferstandenen sehe. Oder all die verzückten Heiligen. Bin ich etwas lau und bequem geworden? Ein bedürftiges Kind?

Wenn ich das heutige Tages-Evangelium (Mt 15,21-28) nehme. Da fühle ich mich eher wie die Jünger. Es kommt eine fremde Frau und will was. «Ach mühsam. Gib doch Ruhe. Bitte.» stelle ich mir vor. Ein schreiender Mensch, der den Frieden stört – und Gott schweigt. «Jesus gibt ihr keine Antwort. Da traten die Jünger zu Jesus und baten: Befrei sie von ihrer Sorge, denn sie schreit hinter uns her.» (Mt 15,23) Das kommt mir bekannt vor. Wie oft erlebe ich Gott als schweigend und nicht handelnd. Menschen schreien. Not und elend gibt es auf der Welt. Und Gott schweigt. Lieber Gott, tu doch etwas. Dein Schweigen hilft den Leidenden nicht weiter. Und wir, deine Jünger und Jüngerinnen leben doch so schön, bequem und friedlich. Aber das Geschrei der Leidenden, der Fremden, der Unterdrückten nervt. Mach doch, lieber Gott, dass sie Ruhe geben. Lass uns gemütlich unsern Glauben leben!

Interessanterweise kommen die Jünger im Tages-Evangelium nach ihrer Ruhe-Intervention nicht mehr vor. Es geht in der Erzählung um den Konflikt zwischen der Frau und Jesus; in unserer Vorstellung auch zwischen einem Menschen und Gott. Die Frau ist hartnäckig und weiss, was sie will. Ihre Tochter soll geheilt werden und da lässt sie sich auch von Jesus nicht abwimmeln und zurückweisen. Sie insistiert und argumentiert. Lässt sich auf Jesus ein. Jesus versucht in zwei Anläufen den Forderungen der Frau auszuweichen.

«Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.» (Mt 15,24) Und:

«Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.» (Mt 15,26)

Harte, unschöne Worte, finde ich. Jesus von Nazareth hat sich vermutlich zeitlebens nur zum Volk Israel gesandt gefühlt. Er hatte nicht alle Völker oder alle Menschen auf dem Bildschirm. Zuerst soll das Volk Israel bekehrt werden und erst nachfolgend kommt die Völkerwallfahrt nach Jerusalem. Paulus von Tarsus und spätere Generationen von Juden-Christen haben diesbezüglich eine andere Richtung eingeschlagen. Jahrzehnte nach dem Tod von Jesus lösten sich das Christentum aus dem Judentum und wurde eine eigene Welt-Religion. Aber eine, die auch für Heiden-Christen wie wir Platz hatte.

Für mich als Schweizer hat der historische Jesus eine echt harte Botschaft:

«Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.» (Mt 15,24) Also nicht zu den Helvetiern. Und:

«Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.» (Mt 15,26) Ist ein Eidgenosse, eine Eidgenossin ein Hund? Nicht auch ein Geschöpf Gottes!

Da nehme ich mir die kanaanäische Frau gerne als Vorbild! Sie will nicht etwas für sich, sondern für ihre Tochter. Und Jesus könnte helfen. Das glaubt sie standhaft. Und da akzeptiert sie keine ethnischen Grenzen, auch kein Nein von Jesus himself. Gottes Heil ist für alle Menschen da fordert die fremde Frau.

«Doch die Frau kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!» (Mt 15,25)

«Da entgegnete sie: Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen.» (Mt 15,27)

Liebe Christen und Christinnen, Schweizer und Schweizerinnen

Vier Dinge nehme ich mir aus dem heutigen Tages-Evangelium in meinen Alltag:

  1. Mit Gott kann man ringen und argumentieren. Dabei zeigt uns Jesus von Nazareth, dass auch er – wohl auch Gott – über seinen Schatten springen kann. Es scheint einiges gar nicht so klar zu sein und Geschichte meint auch Entwicklung. Ich kann und soll also aus meiner Komfort-Zone herauskommen und mich für meine Nächsten einsetzen. Dabei hoffe ich, dass Gott mir, uns beisteht.
  2. Jesus von Nazareth will nicht wie die Jünger einfach Ruhe und billigen Frieden. Er lässt sich herausfordern und stellt sich der Frau, dem Menschen, der sich ihm in den Weg stellt. Dabei kann er über seinen Schatten springen und seine Meinung ändern.
  3. Im Ringen mit Gott braucht es mehrere Anläufe und vor allem auch Köpfchen, Aufmerksamkeit und gute Argumente. Die Frau verlässt sich nicht auf Tränen oder Schreien, sondern auf den gesunden Menschenverstand, auf Wissen und Argumente. Nicht kindlich, aber erwachsen begegnet die Kanaanäerin Jesus, dem Israeliten.
  4. Glaube ist nicht diffus, sondern er hat Ziele, engagiert sich, fordert ein. Und da kann die Welt und der Himmel mit Gottes Hilfe auf den Kopf gestellt werden: «Frau, dein Glaube ist gross. Was du willst, soll geschehen. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt.» (Mt 15,28) Amen.

Fürbitten

Gott, du hast der kananäischen Frau Mut und offene Augen gegeben. Im Gedenken an sie bitten wir dich:

  • Gott, gib uns offene Augen wie der kananäischen Frau für unsere Nächsten.
  • Gott, lass uns wie Jesus auf engagierte Menschen hören und dabei auch ab und zu über unsere Komfortzone herauskommen.
  • Gott, lass uns Not wahrnehmen und zur Sprache bringen.
  • Gott, gib uns offene Sinne auch für Menschen anderer Religionen.

In der kananäischen Frau ist deine Menschenfreundlichkeit herausgefordert worden. So lass uns durch ihr Beispiel mit dir die Welt gestalten.

Friedenbildend Krieg führen

Artikel aus ITE 2023/3; Ein gewonnener Krieg macht keinen Frieden

Frieden ist in steter Entwicklung und oft eher ein Wunsch für die Zukunft, denn Realität in der Gegenwart. Die Schweiz ist ein wunderbares Modell für Friedenspolitik. 2023 feiern wir 175 Jahre Schweizer Bundesverfassung und 75 Jahre AHV. Und immer noch wird am friedlichen Zusammenleben, auch am sozialen Frieden gearbeitet. Leben Schweizer*innen heute im Krieg oder im Frieden?

Als ich 2022 von Rapperswil ins Kapuzinerkloster Schwyz versetzt wurde, betrat ich einen neuen Kulturraum. Und natürlich besuchte ich das Eidgenössische Bundesbriefmuseum vor Ort. Die erste grosse Überraschung: Da gibt es nicht nur den einen berühmten Bundesbrief von 1291, sondern ganz viele solcher Briefe und Verträge aus dem Mittelalter. Am meisten imponiert hat mir der Vertrag von Uri, Schwyz und Unterwalden mit Bern, von 1353. Die Ur-Eidgenossen bekamen Angst vor dem aggressiven und sich expandierenden Bern. So bemühten sich Uri, Schwyz und Unterwalden um ein Bündnis mit dem unberechenbaren Nachbarn im Westen. Die stämmigen Innerschweizer fühlten sich mit einem Vertrag sicherer vor Bern und hatten erst noch einen guten Partner gegen Habsburg. Die drei Kantone versprachen im Gegenzug Soldaten, damit den Bernern an der Westfront die Söldner nicht ausgehen. In der Westschweiz zeugen heute noch viele Zwingburgen – vor allem am Neuenburger- und Genfersee – von diesem Ausbreitungsdrang der Berner.

Kriege in der Schweiz

Die zweite, noch grössere Überraschung für mich: Der letzte, mit Waffen ausgetragene, Bürgerkrieg auf Schweizer Boden fand 1847 statt – der Sonderbundskrieg. Vor 176 Jahren also. Und war es damit wirklich fertig? Im Jura-Konflikt gab es in unterschiedlichen Gegenden Menschen, die an andere Orte fliehen mussten, weil sie zur falschen Pro-Gruppe gehörten, Bern oder Jura. Migrant*innen im eigenen Land also. Ob dieser Konflikt jetzt befriedet ist? Oder wird das einst imperiale Bern weitere Gebiete abtreten müssen, die es dank Söldnern aus der Innerschweiz einst erobern konnte?

War die Schweiz seit 1847 wirklich ein befriedetes Land? Wie ist der Generalstreik von 1918 einzuordnen? Wie steht es mit unserem Frieden zu anderen Ländern, international? Gut achtzigjährige Schweizer*innen erinnern sich noch an Krieg, Kriegswirtschaft und Anbauschlacht. Und heute? Wie steht es mit unserem Verhältnis zu Russland? Ein harmonischer Friede oder eher ein Wirtschaftskrieg?

Konflikte und Lösungen bis 1848

Wie kam es eigentlich zum letzten (offiziellen) Bürgerkrieg der Schweiz? Der Historiker Georges Andrey fasst die komplexe und konfuse Vorgeschichte in der «Geschichte der Schweiz und der Schweizer» von 1986, Seite 621, in sehr dichter Form zusammen:

«Der Weg zum handlungsfähigen Bundesstaat führte durch Krisen und Spannungen verschiedenster Art, durch verdeckte Konflikte und offene Auseinandersetzungen, die nur hin und wieder durch Annäherungen und Akte der Versöhnlichkeit überbrückt wurden. Vor allem die Eidgenössischen Schützenfeste gaben jeweils Anlass zu Bekundungen von brüderlicher Solidarität und gemeinsamem Patriotismus. Krieg und Frieden zwischen den Kantonen waren der Ausdruck einer mühevollen Suche, eines langen Marsches von der alten Eidgenossenschaft zum modernen Bundesstaat. Konflikte und Spannungen kamen den Zeitgenossen stärker zum Bewusstsein als die Ansätze zu friedlicher Konfliktlösung. Auf institutioneller Ebene gab es aber beides, Konkordate und Konventionen auf der einen, Abspaltungen und Sonderbündnisse auf der anderen Seite, die das eidgenössische Zusammenleben zwischen 1803 und 1848 positiv und negativ beeinflussten.»

Der Sonderbundskrieg

Der Schweizer Bürgerkrieg von 1847 ist komplexer, als man sich denken könnte. Es geht nicht um katholische gegen reformiert-liberale Menschen. Denn auch katholische Kantone wie Solothurn, St. Gallen und Tessin kämpften mit der reformiert-liberalen Mehrheit. Interessanterweise sind die Anführer beider Seiten konservativ und reformiert. Beide Generäle waren weder katholisch noch liberal. Interessanterweise hat dieser Konflikt – langfristig gesehen – keine tiefen Wunden hinterlassen und ist heute fast vergessen.

Der Historiker Benedikt Meyer schreibt dazu: «‹Nous devons sortir non seulement victorieux, mais aussi sans reproche›*, hatte General Dufour seine Soldaten ermahnt. Und tatsächlich gab es fast keine Plünderungen, und die Verluste waren mit 93 Toten und rund 500 Verwundeten für einen Bürgerkrieg moderat. Dufour war nicht nur ein begnadeter Kartograf und Stratege, er gehörte später auch zu den Gründern des Roten Kreuzes. Nach dem Krieg erhielt die Schweiz 1848 ihre erste Verfassung, eine Hauptstadt und eine übergeordnete Regierung.» (Vgl. https://blog.nationalmuseum.ch/2019/08/der-sonderbundskrieg/)

Friedensarbeit: Pace e bene

Siegen, aber keine Vorwürfe machen, war das Motto während des Sonderbundkrieges. Auch wurden menschliche Übergriffe und Plünderungen unterlassen – eine Forderung, die schon Niklaus von Flüe an die Soldaten stellte. Die besiegten Kantone sollten nicht auf die Schlachtbank geführt, sondern möglichst integriert und in ihrem Stolz gestützt werden. Und wohl sehr wichtig; die neue Verfassung im amerikanischen Stil. Konflikte sollen nicht mehr mit Waffen, sondern durch eine Rechtskultur friedlich geregelt werden. Die erste Verfassung schien so gut gewesen zu sein, dass es in den vergangenen 175 Jahren nur zwei grössere Verfassungsreformen brauchte. Vielleicht kann man sagen, dass zum Frieden eine geregelte Konflikt- und Gerechtigkeitskultur gehört.

Doch gehört zum Frieden (pace) auch das Gute (bene). Was nützt einem hungernden alten Menschen die Freiheit, wenn daraus Tod wird. Gerade deshalb finde ich es schön und sinnvoll, dass wir dieses Jahr auch 75 Jahre AHV feiern. Denn ohne die nötigen Lebensgrundlagen, die sich im Verlaufe der Zeit verändern, bringt der schönste Frieden nichts. Wenn man heutige Armutsfaktoren betrachtet, dann sind beispielsweise alleinerziehende und alte Menschen besonders gefährdet. Der Geiz der Reichen stützt in solchen Situationen keinen sozialen Frieden.

Frieden für die Zukunft

Es mag sein, dass der letzte Bürger-Krieg in der Schweiz vor 176 Jahren stattfand. Doch sollten wir Schweizer*innen auch künftig am eigenen wie auch am internationalen Frieden arbeiten. Mit Recht und sozialer Verantwortung scheint es in der Vergangenheit im Bundesstaat gut gelaufen sein. Und da braucht es stets neue Justierungen und Verbesserungen. Und macht einander keine Vorwürfe, würde General Dufour mahnen.

* Überstzung: Wir müssen daraus nicht nur siegreich, sondern auch unbescholten hervorgehen.

Eine andere Perspektive

Predigt zu Ex 19,2-6a; Mt 936-10,8

Gott verblüfft mich immer wieder neu und lässt mich staunen. Natürlich haben wir in der Schule das Zeitalter der Ägypter durchgenommen und kennengelernt. Es ging dabei um Pharaonen, um meisterliche Bauwerke und eine spannende Kulturgeschichte. «Was diese Ägypter nicht alles konnten, berechneten und vollbrachten – und das schon vor dreitausend Jahren!» So würde ich den Geschichts-Unterricht von Lehrer Jauch in der fünften Klasse zusammenfassen. Viele Touristen reisen heute noch nach Ägypten und staunen über die untergegangene Kultur. Welch eine Kultur?! Und das schon vor dreitausend Jahren! Faszinierend und einmalig.

Doch Gott, oder zumindest die Bibel, haben einen ganz anderen Blick auf diese Zeit. Nicht der Pharao, seine Priester oder Gelehrten, stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der mächtige Pharao wird in der Bibel sogar zum verstockten und verblendeten Herrscher, Anti-Helden. Der Blick der Bibel ist auf die Kleinen, Unterdrückten, Heimatlosen gerichtet. Mit Ihnen und nicht mit den Mächtigen jener Zeit wird ein Bund geschlossen. Dem Haus Jakob und den Israeliten lässt Gott sagen: «Mir gehört die ganze Erde, 6 ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.» (Ex 19,5c-6a) Davon hat uns Lehrer Jauch in der Schule nichts erzählt, in der Geschichte der Mächtigen und der Angesehenen des Geschichtsunterricht. Und eben, die Erde gehört Gott und nicht einem Sonnenkönig.

Mindestens drei Mal wurden in meiner Schulzeit die Römer im Geschichts-Unterricht durchgenommen. Römer konnten organisieren und regieren – okay, dass damit Unterdrücken und Ausbeuten gemeint war, wurde uns nicht gesagt. Die Römer wurden eher als Retter vieler Völker dargestellt. Von den vielen gekreuzigten Menschen dieser Zeit kein Wort. Auf Schulreisen haben wir römische Orte der Schweiz besucht. Und später im Lateinunterricht: Der Krieg mit den Galliern. Monate, ja jahrelang. Pater Disler war im Element und man merkte, dass er von einer wichtigen, ja heiligen Zeit erzählte. Und all die Dichter mit ihren wunderbaren Versformen; und für mich der Höhepunkt: die römischen Philosophen. Ein wahrhaft gebildetes und kultiviertes Volk, die Römer! Selbst heute noch müssen Juristen während dem Studium das römische Recht lernen. Und viele sind ganz fasziniert davon. Doch die Namen Jesus von Nazareth oder Paulus von Tarsus kommen dabei nicht vor.

Die Evangelien, das Neue Testament erzählen von Jesus von Nazareth. Und dieser sagt zu seinen Jüngern: «Geht nicht den Weg zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter, 6 sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel!» (Mt 10,5-6) Jesus empfiehlt die Römer den Jüngern also nicht. Da wird in den Evangelien nichts von den erfolgreichen Römern, ihrer Lyrik oder ihrer Philosophie erzählt. Nicht einmal etwas von den berühmten römischen Strassen und Bäder. Nein, ein erobertes und unterdrücktes Volk wird von Jesus von Nazareth angesprochen – und dieses wird von anderen Völkern ferngehalten. Selbst die Samariter oder Samaritaner, die ja wie die Juden aus dem Volk Israel hervorgegangen sind, werden aussen vor gelassen.

Was für ein Gott?! Was für ein Glaube?! Und wir Christinnen und Christen in seinen Spuren? Schauen wir nicht eher auf die Mächtigen unserer Zeit, auf grosse Politiker, Medien-Stars und vor allem Reiche, heute oft auch Oligarchen genannt! Und je lauter einer ist, desto mehr Aufmerksamkeit ist ihm gewiss.

Jesus lädt uns nicht zur Unterwürfigkeit und zum Staunen über die Grossen, Lauten unserer Tage ein. Nein: «Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe! 8 Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!» (Mt 10,7-8)

Leben ist nicht zuschauen und warten. Das Heil kommt nicht von den Mächtigen und Reichen. Auch nicht vom Bekehren und freundlichen Umgang mit diesen. Sondern ganz konkret. Auf Augenhöhe dürfen wir leben und wirken. «Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!» Heilen, erwecken und austreiben kann ich leider nicht. Doch ich kann mich Kranker annehmen, Sterbende begleiten, an den Rand gedrängte Menschen in unsere Gemeinschaft integrieren und dem Bösen, Beleidigenden, Zerstörerischen, Schlechten widerstehen. Keine grosse Show, kein Glamour, kein Imperium, aber ganz alltäglich, unaufgeregt und aus Liebe motiviert: «Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.» (Mt 10,8b). Zu einem solchen heilsamen, konkreten und wohlwollenden Leben sind wir eingeladen. Auch heute. Und so dürfen wir uns als Jünger und Jüngerinnen Christi fühlen. Dazu wünsche ich uns allen innere Kraft und gutes Gelingen. Amen.

Glaubens-Erweiterungen

Auferstehungsgottesdienst Norbert Seibert, 7. Juni 2023

Die heutige Lesung der Apostelgeschichte (10,1-22) erzählt uns zwei Glaubensgeschichten an wichtigen Wendepunkten. Dabei geht es nicht um ein hagiografisches vorher alles schlecht und böse, dann alles ideal und alles gut. Die Apostelgeschichte erzählt von zwei wichtigen Glaubens-Erweiterungen – so würde ich dies nennen.

Kornelius ist fromm und gottesfürchtig, gibt dem Volk reichlich Almosen und betet beständig zu Gott. Was braucht es da noch? So könnte man fragen. Doch der Engel Gottes tritt zu Kornelius und lädt ihn zu einer Begegnung mit Petrus ein. Was diese Begegnung dann bringen will, sagt der Engel nicht. Er beschreibt Kornelius den Weg zu Petrus sehr genau. Was will Gott von mir, muss er sich fragen. Die Antwort wird dem Gottesfreund die Zeit und ein Mensch, Petrus, geben.

Auch bei Petrus geht es im gehörten Text um eine Glaubens-Erweiterung. Er ist Jude und gehört zum auserwählten Volk. Ja, er hat sogar mit Jesus von Nazareth zusammengelebt. Was will man mehr? Und trotzdem wird er von Gott verzückt, verwirrt. Er sieht ein Bild und hört eine Stimme. Petrus bleibt ratlos und begibt sich in die Begegnung mit den drei Männern, die von Kornelius zu ihm geschickt wurden. «Aus welchem Grund seid ihr hier?» Sein Verständnis von Gottes Botschaft muss sich noch entwickeln. Gegeben sind Weg und die Begegnungs- und Gesprächspartner.

Die Gottes-Begegnung lassen sowohl Kornelius als auch Petrus mit neuen Fragen und Aufgaben zurück. Die Antwort wird ihnen die Zeit und die Begegnung mit ihnen noch unbekannten Menschen geben. Kornelius wird sich nach langem Prozess taufen lassen. Petrus wird lernen, dass Jesus Christus nicht nur für Juden gelebt, gewirkt, geheilt, vergeben hat und dann nach dem Tod auferweckt wurde.

Fromme, vorbildliche Menschen werden in ihrem Glauben und Gottesbild verunsichert und bereichert, so würde ich die beiden Glaubens-Erweiterungs-Geschichten zusammenfassen. Bisheriger, guter Glaube wird von Gott in Frage gestellt. Dem Gläubigen tun sich neue Horizonte auf.

Ähnliches finde ich in der Lebensgeschichte von Bruder Norbert. In seinem Leben finde ich zwei spezielle Situationen, die ihn besonders geprägt haben. Die Erste: Tod seiner Schwester: «Die Begegnung mit dem frühen Tod meiner Schwester hatte mich sehr betroffen gemacht», schreibt Norbert. Wenigen vertrauten Menschen hat er darüber erzählt.

Die zweite prägende Begegnung erlebte Norbert als vierzig Jähriger. Er hatte in diesem Alter schon einiges erlebt. Er war Schreiner, nach einem Arbeits-Unfall wurde er Psychiatrie-Pfleger. Norbert hatte bei den Jesuiten ein Noviziat begonnen und abgebrochen, liess sich aber bis zum Tod des Novizenmeisters der Jesuiten, 2015, von diesem begleiten. Es gibt einen guten ignatianischer Boden, der Norbert getragen hat. In der Diaspora-Pfarrei Langnau konnte Norbert sich wunderbar einfinden und fand Heimat. «So wirkte ich als Lektor und Kommunionspender, sowie auch aktiv im Kirchenchor mit», liest man in Norberts Lebenslauf. Eigentlich alles in Butter? Der liebe Gott hätte die Dinge laufen lassen können. Oder etwa nicht?

Aber ohalätz. Wie bei Kornelius und Petrus beginnt mit 40 plötzlich eine lang andauernde Glaubens-Erweiterung! Zitat: «1986 begegnete ich zum ersten Mal in Assisi der Gestalt und dem Leben des heiligen Franziskus», schreibt Norbert. Alles klar? Nein, im Gegenteil! Jetzt beginnt sie erst richtig, die Verwirrung, wie es auch bei Kornelius und Petrus geschildert wird. Norbert: «Nach langem Suchen entschloss ich mich in den Orden der Minderbrüder Kapuziner einzutreten». Und gelassen suchend sowie interessiert habe ich Norbert bis zu seinem Tod erlebt. Er war spirituell wach, las, betete und liess sich inspirieren von Predigt und Liturgie.

Und vermutlich erlebte Norbert deshalb in der Ausbildungs-Gemeinschaft in Salzburg prägende, schöne und glückliche Zeiten. In Salzburg waren er und auch andere auf dem Weg, am Suchen, am Ringen, am Erweitern des Glaubens. Was will Gott von mir? Gleichzeitig konnte Norbert an diesem lebendigen Ort eine gute Stütze sein auf dem Weg mit Gott. Schilderungen und Dankbarkeit von jüngeren Kapuziner geben Zeugnis davon.

Oft lenkte Norbert von seiner eigenen Person ab, wenn das Gespräch auf ihn fiel. «Es ist schön Wetter draussen», war der Signal-Satz, den wir in Schwyz ab und zu hörten. Und da wussten wir: Themenwechsel. Nicht Norbert im Mittel-Punkt, bitte. Vielleicht hilft unserem Verständnis von Norbert die Christus-Ikone aus seinem Zimmer weiter.  Christus mit segnender Gäste, den Text hörten wir im Evangelium «Kommt alle zu mir, die ihr Mühe habt und beladen seid. Ich werde euch Erleichterung verschaffen. (Mt 11,25-39). Und es ist unser Vertrauen und Glauben, der uns hören lässt. Ja, Norbert wurde durch Tod und Auferstehung Erleichterung verschaffen. Amen.

Herausgefordert zum Umdenken

Telebibel – 1. bis 16. Juni 2023 – Apostelgeschichte 10 …

Die ersten Christen und Christinnen, eigentlich noch Juden und Jüdinnen, waren gefordert über den eigenen Schatten zu springen. Davon und von der Gemeinschaft des Glaubens erzählt die Apostelgeschichte. Auch heute sind Christen und Christinnen gerufen über eigene Schatten zu springen – und dies in Gemeinschaft sowie mit Gott. Vom 1. bis 16. Juni zu hören bei der Telebibel Zürich.