Solidarität statt Perfektionismus

Predigt vom 13. Oktober 2024, Mk 10, 17-30

Perfektionismus ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das in erster Linie durch sehr hohe Massstäbe, einer Rigidität der Massstäbe und einem leistungs-abhängigen Selbstwert charakterisiert ist, sagt Nils Spitzer. Vgl. Wikipedia, Perfektionismus (Psychologie). Nach meiner Einschätzung sind religiöse Menschen oft moralische Perfektionisten. Auch Franz von Assisi wusste dies und gab Gegensteuer. So ging der Heilige einen Monat auf die Isola Maggiore im Trasimenischen See meditieren und fasten. Doch nahm der Heilige ein Brot mit und begann vor dem Ende des Aufenthalts dieses Brot zu Essen. Dies aus Respekt vor Jesus von Nazareth. Denn Franziskus wollte Jesus mit dem vierzig Tage Fasten den Vortritt lassen. Der Heilige kannte Bescheidenheit in religiösen Dingen. Ein anderer hätte 41 Tage gefastet und sich gerühmt, länger als Jesus gefastet zu haben!

Eine weitere Franziskus-Fastengeschichte erzählt, wie der Heilige mit Brüdern am Fasten war. In der Nacht schrie ein Mitbruder vor Hunger auf. Franziskus hörte den leidenden Mitbruder, stand auf und war der Erste, welcher das Fasten brach und dem leidenden Mitbruder das Brot brach und zum Geniessen aufforderte.

Im heutigen Tagesevangelium (Mk 10,17-30) begegnet Jesus einem Mann, der das ewige Leben will. Dabei baut dieser auf eigene Leistung. Er hält Gottes Gesetze durch und durch. Interessanterweise weist selbst Jesus das Gutsein zurück und verweist auf Gott, der allein gut sei. Gutsein ist keine menschliche Leistung oder Eigenschaft, die man sich durch das Beobachten von Geboten und Vorschriften verdienen kann.

Jesus sieht den Mann verstehend an und umarmt ihn. Jesus attestiert dem Mann, dass er Gottes Gesetze auch wirklich erfüllt hat. Doch um solchen Perfektionismus geht es im religiösen Leben nicht, oder vielleicht auch nicht zuerst. Dem Mann fehlt die Solidarität mit den Menschen, mit den Armen. Das ewige Leben verdient man nicht für sich selbst, sondern in Gemeinschaft mit Menschen, vor allem mit den Menschen am Rande, mit denen die Leiden, mit denen, die nichts haben. Der religiös perfekte Mann geht traurig von Jesus weg. Trotz seinem ethischen Perfektionismus bleibt ihm das ewige Leben verwehrt, vielleicht auch vordergründig verwehrt. Denn eben, Gott kann alles. Wer weiss das schon?

Die Jünger bleiben bei Jesus und sind schockiert. Im Gegensatz zum nun enttäuschten Mann wissen sie, dass sie auch schon versagt haben. Vor allem Petrus wird uns in den Evangelien als kein perfekter Mensch geschildert. Er versteht Jesus nicht immer, vor allem die gefährliche Reise nach Jerusalem nicht. Erinnern wir uns an Markus 8,33: «Jesus aber wandte sich um und sah seine Jünger an und ermahnte den Petrus ernstlich und sprach: Tritt hinter mich, Satan! Denn du denkst nicht göttlich, sondern menschlich!»

Auch im heutigen Tagesevangelium werden wir aufgefordert, denk göttlich und nicht menschlich, lebe Nächstenliebe, Selbstliebe und Gottesliebe. Aber eben das ewige Leben ist und bleibt ein Geschenk Gottes an den Menschen. Da helfen uns weder unsere religiösen und moralischen Leistungen noch unser Geld, unser irdischen Reichtum – und vor allem nicht diese in perfekter Reinkultur. Zuerst geht es einmal um Solidarität und Dankbarkeit.

Und eben, auch das gläubige Leben bringt wunderbare Früchte der Gemeinschaft und der Solidarität: «Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben.» Mk 10,30

Dazu braucht es keinen Perfektionismus und auch nicht die ihm zugehörige Angst alles richtig zu machen, sondern Freude und Gewissenhaftigkeit – als positiver Begriff an Stelle des Perfektionismus – im Tun. Und vor allem einen liebenden Gott im Himmel, der möglich macht, was uns Menschen unmöglich und vermutlich auch unvorstellbar ist. Amen.

Früchte der Nächstenliebe

Predigt vom 28. April 2024; Apg 9,26-31; Joh 15,1-8

Das Tagesevangelium mit Weinstock, Winzer und Reben oder eben Jesus, Vater und Menschen, ist eine wunderbare Meditation zu den Beziehungen von uns Menschen mit Jesus und seinem, unserem Vater. Dieses Nachdenken zielt auf unser praktisches und konkretes Leben ab: «Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jünger und Jüngerinnen werdet.» (Joh 15,8)

Dieses Fruchtbringen nimmt die heutige Lesung, die Apostelgeschichte, konkret auf. Damit möchte ich mich in dieser Predigt auseinandersetzen. Saulus, Jünger, Barnabas, Apostel, Hellenisten, Brüder und die Kirche in ganz Judäa, Galiläa und Samaria werden im Text der Apostelgeschichte genannt. Thema ist die Fruchtbarkeit eines Saulus, die verschiedentlich ausgebremst wird. Zuerst wird Saulus von den Jüngern an seinem Handeln gehindert. Die Jünger fürchten sich vor Saulus, der sie ja noch vor Kurzem verfolgt hat. Auch wissen sie gut um den nicht gerade zimperlichen und konfliktfreudigen Charakter eines Saulus.

Auch in unserem Leben oder im Leben anderer kann die Biografie und der Charakter ein Hindernis fürs Fruchtbarwerden sein. Manchmal wird gerne von Glaubwürdigkeit und Authentizität gesprochen. Sowohl Kirchen wie auch einzelne Christen haben im Lauf der Geschichte und besonders in den letzten Jahren viel an Glaubwürdigkeit verloren. Kreuzzüge und Missbrauch sind da die grellsten Stichworte dazu. Doch gäbe es noch viele andere Versagen kirchlicher Menschen aufzuzählen. Menschen erzählen Erfahrungen von gewalttätigen Gottesbildern und unethischem Verhalten kirchlicher Amtsträger und Amtsträgerinnen. Vor allem ältere Menschen haben manchmal in der Jugend schlechte und unfaire Erfahrungen mit Pfarrern oder Katechetinnen gemacht.

Interessanterweise kann in der Apostelgeschichte Saulus seinen Wandel nicht selbst glaubhaft machen. Ein anderer, Barnabas, macht sich auf, sieht sich Saulus und sein neues, reformiertes Selbstverständnis genauer an und kann, nachdem er sich selbst überzeugt hat, Saulus zu den Apostel führen und diesen die Angst nehmen. Das Zeugnis des Barnabas kann Saulus den Aposteln glaubwürdig machen. Ich denke, dass das solches Zeugnis auch unseren Alltag sehr prägt. Menschen können uns schlechtreden wie auch fördern. Auch wir können über Menschen negativ oder positiv sprechen.

Für die Glaubwürdigkeit des Zeugen oder Förderers muss das Reden der Wahrheit und der Realität entsprechen. Schönreden kann nicht die Antwort sein. Informationen müssen wahr sein. Tu Gutes und dann sprich davon.

In den Medien spricht man oft vom wohlwollenden Blick auf die Fakten, der zusätzlich gefordert ist. Als ich im Linthgebiet bei der Tageszeitung gearbeitet habe, da sagten die Veranstalter oft: «Wir begrüssen auch die Presse und danken für eine wohlwollende Berichterstattung.» Barnabas sagt den Aposteln nicht einfach, seid nett mit Saulus, sondern er kann von eigenen Erfahrungen mit Saulus erzählen und so die Apostel vom glaubwürdigen Lebenswandel des Saulus überzeugen.

Was bedeutet das heute für die Kirchen und Christen, Christinnen? Interessanterweise zeigen viele Untersuchungen, dass nicht Liturgie oder Dogmen die Lösung für die heutige Kirchenkrise sind. Menschen schauen genau, wie Christen und Christinnen sich gegenüber Armen und Randständigen, alten und behinderten Menschen verhalten. Kirchen, Christen und Christinnen werden heute glaubwürdig durch ihre soziale Aufgeschlossenheit und Solidarität.

Wenn ich den Seitenblick auf Saulus wage, dann lese ich in der Apostelgeschichte, dass Saulus freimütig im Namen des Herrn auftrat und Streitgespräche führte. Nein, Christen und Christinnen sollen nicht unscheinbar werden, sie dürfen für ihre gesunden Werte einstehen. Erst dann werden sie in ihrem Glauben gefestigt und können in Frieden leben und Früchte bringen. Und vielleicht ist das auch ein überzeugendes Verhalten gegen die gegenwärtige Austrittswelle von enttäuschten Kirchenmitgliedern? Denn sie fragen ja oft: «Wieso soll ich in der Kirche bleiben?» Christen und Christinnen brauchen ehrliche und sichtbare Antworten auf Fragen und Probleme unserer Zeit.

In der Apostelgeschichte lesen wir: «Die Kirche in ganz Judäa, Galiläa und Samárien hatte nun Frieden; sie wurde gefestigt und lebte in der Furcht des Herrn. Und sie wuchs durch die Hilfe des Heiligen Geistes.» (Apg 9,31) Das wünsche ich auch uns, der Schwyzer, der Helvetischen Kirche. Und eben, wie sagt Jesus : «Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jünger und Jüngerinnen werdet.» (Joh 15,8) Amen.

Extreme Armut und Menschenrechte

Predigt vom 25. September 2022, Am 6,4-7; Lk 16, 19-31

Liebe besorgte und vielleicht auch verunsicherte Menschen
Für unsere Kapuziner-Zeitschrift ITE durfte ich in den letzten Tagen ein Interview mit Sandra Epal-Ratjen machen. Die Juristin arbeitet für Franciscans International in Genf bei den Vereinten Nationen und beschäftigt sich besonders mit dem Leitfaden zu extremer Armut und Menschenrechten, wie ihn die UNO vor zehn Jahren verabschiedet hat. Dieses Jahr ist das zehnjährige Jubiläum und es kann einiges gefeiert werden. Denn, vor allem bis Corona, konnte weltweit einiges erreicht und verbessert werden. Die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, konnte markant verringert werden. Corona hat die Entwicklung leider behindert und verhindert.

Was ist extreme Armut? Besser, welche Faktoren führen da hinein? Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Arjun Sengupta, kennt drei konstitutive Merkmale von Armut:
– Geringes Einkommen,
– geringe Entwicklungschancen
– sowie soziale Ausgrenzung.

Um Menschen aus extremer Armut befreien zu können, muss ihnen also ein gutes Einkommen, persönliche Entwicklungschancen und soziale Integration ermöglicht werden. Und das bedeutet auch Menschenrechte einzufordern und durchzusetzen. Zum Beispiel auch ein Recht auf Bildung. Oft kennen extrem arme Menschen ihre Rechte nicht und können diese nicht einfordern. Deshalb begleitet die Juristin Sandra Epal-Ratjen in ihrer Freizeit Menschen auf ihren Behördengängen.

Als Sandra mir von Amtsstuben erzählte, kam mir mein Studienbeginn in Rom in den Sinn. Die Mühlen von Universitäten sind exakt und herausfordernd. Und dies alles in fremder Sprache. Zum Glück gab es erfahrene Mitbrüder, die mir einiges regelten und gute Tipps für die Anmeldungen an der Uni sowie für das Leben in Italien gaben. Eine Erfahrung, die wohl auch Menschen in der Schweiz heute machen, wenn sie von uns Einheimischen unterstützt werden. Meine Mutter hat ukrainische Flüchtlinge aufgenommen und mir davon erzählt, wie anspruchsvoll die Behörden in der Schweiz sind. Als Politikerin hatte sie oft mit Behörden zu tun und ich male mir aus, wie sie da ihre ukrainischen Gäste begleitet hat. Ihre Erzählungen und Amts-Erfahrungen waren jedenfalls spannend! Sandra Epal-Ratjen erzählte mir von Menschen von überall auf der Welt, die sich so für Arme einsetzen. Ich durfte diese Erfahrung in Kenia machen, wo sich Brüder in den Slums für Rechtlose wehren (Vgl. Bild).

Schon das Buch Amos lädt uns intensiv zur Hilfe und Integration von Armen ein: «Das Fest der Faulenzer ist vorbei!» ruft uns der Prophet zu. Seid nicht zu sorglos und zu selbstsicher! Ihr habt eine Verantwortung, wenn andere Leiden und Untergehen. Auch der Evangelist Lukas betont die Verantwortung im Leben. Unser Handeln kann nach der Erzählung vom Reichen und von Lazarus nicht in die Zukunft oder sogar in den Himmel verschoben werden. Es sind diese beiden Texte zwei eindrückliche Zeugnisse für unsere von Gott gegebene Verantwortung für unsere Nächsten, für arme Menschen. Aufforderung zum Einsatz gegen Armut und Rechtlosigkeit!

Und trotzdem, liebe GottesdienstbesucherInnen, möchte ich an dieser Stelle auf das Buch Factfullness hinweisen, das 2018 – also noch vor Corona – publiziert wurde. Und darin werden Fakten aufgezählt, dass die Welt auch gut ist und sogar besser geworden ist. Zum Beispiel:

  • Wussten Sie, dass 60% der Mädchen aus Entwicklungsländern eine Grundschule besucht haben? Tendenz steigend.
  • In den letzten zwanzig Jahren, vor 2018, hat sich der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, halbiert. Nicht schlecht!
  • Die Lebenserwartung weltweit ist bei 70 Jahren. Hätte ich nicht geahnt.
  • 80% der Kinder weltweit werden geimpft. Die Überlebens-Chancen steigen also.
  • 90% der 30jährigen Frauen waren 9 Jahre in der Schule, Männern 10 Jahre in der Schule. Ein Jahr länger. Doch gibt solche Bildung Hoffnung für die Zukunft.
  • 1996 galten Tiger, Riesenpandas und Spitzhorn-Nashörner als stark vom Aussterben bedroht. Die Bedrohung dieser Tiere ist zurückgegangen.
  • 80 Prozent der Menschen der Welt haben heute Elektrizität zur Verfügung. Das ist vor allem wichtig zur Verbesserung der Bildungschancen. Man kann auch bei Dunkelheit noch arbeiten.
  • Vgl. dazu: https://wachstumstracker.de/factfulness-quiz/

Es ist klar, dass extreme Armut noch nicht verschwunden ist und dass immer noch Menschen auf ihre Menschenrechte warten – und wir bleiben in der Verantwortung sind. Die oft kurzfristigen Bad News der Medien sind zwar wichtig, doch nicht die ganze Wahrheit. Es ist einiges besser geworden in den letzten Jahrzehnten. Und so dürfen auch wir mit den Vereinten Nationen feiern, dass einiges besser geworden ist! Und eingeladen sind wir an unserem Ort, uns und in der Welt für bessere Bedingungen einzusetzen. Amen.